Ein Vortrag von Gerd Lüdemann
Erstfassung
2000; hier: modifizierte Fassung Dez. 2004; © Prof. Dr. Gerd Lüdemann,
Universität Göttingen, Professor für Geschichte und Literatur des frühen
Christentums Weitere Informationen: http://wwwuser.gwdg.de/~gluedem/
Einleitend sei betont, daß der
folgende Vortrag sich nicht mit Einzelpersonen der Gegenwart befaßt, sondern
mit der Institution Kirche bzw. den kirchenleitenden Organen. Trotz der Schärfe
der im Vortragsthema gemachten Aussage verletze ich an keiner Stelle die Ehre
der Kirchenfunktionäre und schon gar nicht die der Geistlichen, die zum großen
Teil Gefangene eines Systems sind.
Mit dem Wort "Lüge"
verbinde ich die Bedeutung, daß Menschen Wahrheit unterdrücken und/oder
Falschaussagen machen. In beiden Fällen geht es also um bewußte Vorgänge, die
freilich oft ins Unbewußte verschoben, d.h. verdrängt werden. Nietzsches
Beschreibung des Vorgangs bei einer Fälschung dürfte auf den hier vorliegenden
Sachverhalt zutreffen. "Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis; das kann
ich nicht getan haben, sagt mein Stolz. Endlich gibt das Gedächtnis nach."
Mit anderen Worten: Was im
folgenden kritisch zur Praxis der Lüge in der Kirche ausgeführt wird, mag auf
ihre Vertreter auf den ersten Blick ärgerlich, unwahr und vor allem verletzend
wirken. Doch gebe ich zu bedenken, daß eine lange bestehende Praxis gelegentlich
Züge eines Verdrängungsprozesses aufweist, wie ihn Nietzsche beschrieben hat.
Im übrigen möchte ich nach dem vorgelegten Material beurteilt werden. Daher
genug der Vorrede!
In einem ersten Abschnitt
behandle ich den Umgang der Kirche mit der heiligen Schrift, in einem zweiten,
wie Theologie sich als kirchliche Wissenschaft versteht und in einem dritten ,
wie sich die Kirche in der Öffentlichkeit darstellt. Am Schluß ziehe ich
Bilanz.
Für die christlichen Kirchen
der Gegenwart und Vergangenheit gilt die Bibel als heilige Schrift. Der überwiegende
Teil der Christenheit auf Erden - und das sind immerhin zwei Milliarden
Menschen - liest die Bibel im wörtlichen Sinne als vom heiligen Geist eingegebenes
Wort Gottes, so wie es bis zur Aufklärung allgemein üblich war. Dies geschieht,
obwohl das dabei vorausgesetzte Schriftprinzip überholt und unhaltbar geworden
ist. Denn die Bibel wurde nicht vom Heiligen Geist eingegeben. Sie ist
Menschenwort. Dieses sichere Ergebnis hat bisher wenig gegen alle Spielarten
von erbaulicher Lektüre der Bibel auszurichten vermocht. Vielmehr herrscht in
der gesamten Christenheit weiterhin fast ungebrochen die Meinung vor: Bei der
Lektüre der heiligen Schrift redet mich Gott an. Warum sonst liest der Christ
die Bibel? Und warum sonst heißt sie heilige Schrift?
Nun hat die seit 250 Jahren
betriebene historische Kritik jeden einzelnen Vers der Bibel als Menschenwort
zu verstehen gelehrt, so daß vom heiligen Status der Bibel wenig übrig
geblieben ist. Wie hat man in der Kirche darauf reagiert?
Als Beispiel wähle ich das
Vorwort zur revidierten Lutherbibel aus dem Jahre 1984, das in hoher Auflage
kursiert. Hier heißt es:
"Die Bibel will allen
Menschen die gute Nachricht von Gottes Barmherzigkeit ausrichten. ...Die
ältesten Zeugnisse des Alten Testaments reichen in die Zeit zurück, als Israel
aus der Wüste in das verheißene Land zog. Von der Geschichte dieses Volkes wird
erzählt, die Botschaft seiner Propheten wird verkündigt, das Gotteslob der
Psalmen wird gesungen.
Die Schriften des Neuen
Testaments sind zum großen Teil in der zweiten Hälfte des ersten Jahrhunderts
n.Chr. aufgezeichnet worden, zuerst die Briefe des Apostels Paulus, dann die
Berichte von Jesu Wirksamkeit, seinem Leiden, Sterben , Auferstehen; dazu kamen
schließlich einige Briefe, die zu Anfang des zweiten Jahrhunderts aufgezeichnet
wurden.
Jede biblische Schrift spricht
in eine bestimmte geschichtliche Lage hinein. Sie redet Menschen an, die Sorgen
und Freuden, Leid und Glück kennen, und sagt ihnen, daß Gottes Wort sie trösten
und aufrichten, ihr Leben bestimmen und leiten will. Die biblischen Zeugen
geben weiter, was sie erfahren haben: Gottes Wort ist wahr, darauf kann man
sich verlassen. Was gestern galt, gilt auch heute, morgen und allezeit."
Dieses Vorwort vereinigt in
sich Ergebnisse der Bibelwissenschaft und theologische Spitzenformulierungen.
Dies entspricht der Praxis in der anschließend gebotenen Übersetzung. Kernsätze
der Bibel werden hier nämlich in halbfetter Schrift gedruckt, und die Übersetzungen
berücksichtigen den textkritischen Befund. So wird beispielsweise die berühmte Perikope von der Ehebrecherin ("Wer unter euch ohne
Sünde ist, werfe den ersten Stein") als spätere Zutat bezeichnet und
ebenso erfährt der Bibelleser, daß die Erzählung von der Auferstehung Jesu dem
Markusevangelium erst im zweiten Jahrhundert nachträglich hinzugefügt wurde.
Die Lutherbibel in der
revidierten Fassung von 1984 samt Vorrede ist somit ein Beispiel für die
heutige Stellung und für den Gebrauch der Bibel im Lager der evangelischen Kirche,
das von der Bibelkritik geprägt ist.
Allerdings ist sofort darauf
hinzuweisen, daß die Ergebnisse der historischen Kritik nicht konsequent in die
Lutherbibel Eingang fanden. Im folgenden greife ich nur zwei Punkte heraus, die
fast beliebig vermehrt werden könnten:
Erstens: In der Übersetzung des
Alten Testaments sind unter anderem diejenigen Stellen fettgedruckt, die die
Christenheit seit 2000 Jahren als Voraussagen auf Jesu Kommen angesehen hat und
die alljährlich in Weihnachts- oder Karfreitagsgottesdiensten vorgelesen werden.
Ich zitiere hier nur zwei:
Jes 7,14 dient als Prophezeiung der jungfräulichen
Geburt Jesu:
"Siehe, eine Jungfrau ist
schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel."
Jes 53,4-5 wird verstanden als Voraussage des Leidens
Jesu:
"Fürwahr, er trug unsere
Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der
geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. Aber er ist um unserer
Missetat willen verwundet und um unserer Sünden willen zerschlagen. Die Strafe
liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir
geheilt."
Nun hat aber die Bibelkritik
ein für allemal gezeigt, daß diejenigen Stellen des Alten Testaments, die von
der christlichen Kirche als Voraussagen auf das Kommen Jesu angeführt werden,
nichts mit diesem zu tun haben, sondern Personen der damaligen Zeit im Blick
haben. So bezieht sich in den angeführten Stellen der leidende Gottesknecht auf
das Volk Israel und der Sohn auf ein Kind des Propheten Jesaja. Aber auch wenn
die soeben genannten Bezugspersonen unzutreffend sein sollten, so ist dennoch
die Deutung auf Jesus in jedem Fall ausgeschlossen, denn dieser lebte erst
viele Jahrhunderte später. Ist es dann aber nicht erbärmlich, wie allweihnachtlich bzw. jedes Jahr in der Karwoche jenes
Possenspiel mit dem Alten Testament vor den nichtsahnenden Zuhörern aufgeführt
wird, die nur einmal pro Jahr in die Kirche gehen? Verdienen sie nicht
Aufklärung darüber, daß die frühen Christen die genannten Bibelverse gegen die
nicht-christusgläubigen Juden verfälscht haben? (Abgesehen davon steht im
hebräischen Urtext von Jes 7,14 nicht
"Jungfrau", sondern "junge Frau".)
Zweitens: Das Alte Testament
sowie das Neue Testament bzw. ihre Bestandteile werden in der Vorrede zur
revidierten Lutherbibel ausdrücklich als Wort Gottes betrachtet, und beide
gelten als Heilige Schrift. Nun wird im protestantischen Lager die Bibel nicht
mehr im wörtlichen Sinn als Wort Gottes verstanden. Vielmehr enthalte sie
Gotteswort als Menschenwort. Dabei zieht man Formulierungen vor wie: Die Bibel
sei Gottes Wort in, mit und unter Menschenwort oder ähnlich. Doch was meint man
damit konkret? Spricht Gott etwa als Person? Nun behaupteten die
alttestamentlichen Propheten zwar, daß Gott sie beauftragt habe, das Wort Gottes
an bestimmte Personen auszurichten, und ähnliches gilt für den Apostel Paulus,
der beanspruchte, an Gottes bzw. Christi statt seinen Gemeinden bestimmte Dinge
zu sagen. Doch ist gleich hinzuzufügen: Die Propheten, Paulus und alle anderen
Zeugen dachten nur, daß es so sei. Von dort bis hin zur Behauptung, Gott habe
hier - wie auch immer: in, mit, unter Menschenwort oder noch ganz anders -
gesprochen, ist ein sehr weiter Weg, der den Menschen im 21. Jahrhundert kaum
zu vermitteln ist.
Vielmehr gilt: Wir haben es in
der Bibel und in allen heiligen Büchern immer nur mit Gottesbildern von
Menschen zu tun, die nicht mit dem Anspruch zu vereinbaren sind, hier und dort
habe Gott - wie auch immer - gesprochen. Wer sagt, die Bibel enthalte Gotteswort
als Menschenwort, bedient sich daher einer unklaren Ausdrucksweise. Die Wendung
"Gotteswort als Menschenwort" suggeriert nämlich eine Entsprechung,
die gar nicht besteht. Gemeint ist immer, Menschen haben etwas geschrieben und
geglaubt, daß es sich um Gottes Botschaft handelt.
Das Gleiche ist zur Wendung
"Kreuz und Auferstehung" zu sagen. Auch hier liegt keine Entsprechung
vor, als ob die Auferstehung Jesu ebenso wie das Kreuz eine historische
Tatsache sei. Gemeint ist vielmehr: Der Christ versteht die Auferstehung als
Interpretation des Kreuzes. Anders gesagt: Der Satz, "Jesus ist
auferstanden" ist eine Interpretation des Kreuzestodes Jesu. Dann aber
kann man Kreuz und Auferstehung nicht parallel verwenden, so wie es zuletzt der
EKD-Ratsvorsitzende tat, als er zur Verteidigung der Rechtgläubigkeit von
Jürgen Fliege sagte: Dieser bekenne sich zu Kreuz und Auferstehung. Der
unvoreingenommene Hörer sieht sich schlichtweg getäuscht, wenn er über den
wahren Sachverhalt aufgeklärt wird.
Die Kirche aber hat ein vitales
Interesse an der Nicht-Aufklärung. Denn der auferstandene Gottessohn ist die
Leiche in ihrem Keller. Würde bekannt, daß Jesus nicht wirklich auferstanden
ist, sondern nur in der Phantasie der Jünger, wäre das Ende der Kirche gekommen.
Die Kirche muß lügen, um ihre Machtstellung im Staate nicht zu verlieren. Noch
einmal: Würde wirklich bekannt, daß der Herr der Kirche ein Phantasieprodukt
der ersten Jünger ist, ade Kirche!
Aber es kommt noch toller:
Alle, die als Pfarrer oder Pfarrerinnen in den Dienst der Kirche treten wollen,
haben bei der Ordination ein Gelöbnis abzulegen. Es lautet in der Kurzform:
"Ich gelobe, das Evangelium von Jesus Christus zu predigen, wie es in der
Schrift gegeben und im Bekenntnis unserer Kirche bezeugt ist." Zum
Bekenntnis der Kirche zählen die Bekenntnisschriften des 16. Jahrhunderts,
angefangen vom Apostolischen Glaubensbekenntnis, das im 2. Jahrhundert
formuliert wurde, bis hin zur Konkordienformel aus
dem Jahre 1577; zur Schrift zählen das Alte und das Neue Testament.
Als ich im September 1995 in
einem Interview es als scheinheilig bezeichnete, daß die Pfarrer auf etwas
ordiniert werden, was sie infolge ihres wissenschaftlichen Studiums nicht mehr
glauben können, legte man diese Behauptung als Diffamierung des ordinierenden
Handelns der Kirche und auch der Pfarrerschaft aus
und lud mich ab sofort nicht mehr zur Ersten Theologischen Prüfung ein. Dabei
hatte ich nur auf die sicheren Ergebnisse historischer Forschung verwiesen.
Neben der bereits oben angeführten Tatsache, daß die messianischen Weissagungen
des Alten Testaments nichts mit Jesus zu tun haben, ging es im wesentlichen um
folgende zehn Erkenntnisse:
Jesus wurde nicht von einer
Jungfrau geboren.
Jesus wollte nicht für die
Sünden der Welt sterben.
Jesus war nicht sündlos, sondern
hat auch nach eigenem Verständnis Sünde getan. Sonst hätte er sich nicht von
Johannes dem Täufer zur Vergebung der Sünden taufen lassen.
Jesus hat das in Kürze
anbrechende Reich Gottes erwartet, gekommen ist die Kirche.
Die meisten Jesusworte sind Jesus
erst nachträglich in den Mund gelegt worden, um Gegner in den eigenen Reihen
und ungläubige Juden zu bekämpfen.
Der Antisemitismus hat Wurzeln
im Neuen Testament.
Im Neuen Testament wird den
ungläubigen Juden ganz zu Unrecht die Schuld am Tode Jesu in die Schuhe
geschoben.
Jesus hat keins der Worte am
Kreuz gesprochen.
Die Auferstehung Jesu beruht
auf einer subjektiven Vision und nicht auf der Auferweckung bzw. der
Verwandlung eines Leichnams zu einer neuen Körperlichkeit.
Paulus hat Jesus persönlich gar
nicht gekannt.
All diese Thesen stehen in
direktem Gegensatz zu der Schrift und den Bekenntnissen der Kirche. Da
angehende Pfarrer und Pfarrerinnen mit ihnen während des Studiums vertraut
gemacht werden, fällt es ihnen schwer, sich wider besseres Wissen auf Schrift
und Bekenntnis ordinieren zu lassen. Aber was bleibt ihnen übrig, wenn sie
Anstellung und Brot nach so langer Vorbereitungszeit erlangen wollen? Außerdem
macht es ihnen die Kirchenleitung leicht. Sie fragt nie wieder nach der
Rechtgläubigkeit ihrer Diener, wenn sie nicht selbst in die Öffentlichkeit
posaunen, daß sie nicht glauben, was im Bekenntnis der Kirche steht.
Ein Fall, wo das doch geschah,
ist der des Hamburger Pastors Dr. Paul Schulz. Nach längeren Verhandlungen vor
dem Gericht der EKD, bei dem er unbeeindruckt auf seiner Kritik an Bibel und
Bekenntnis beharrte, forderte er das Spruchkollegium auf, die verbindliche
kirchliche Lehre zu einer Reihe zentraler Themenkreise darzulegen: Gebet,
Jungfrauengeburt, Auferstehung, Bibel, 10 Gebote, Endgericht, Weltentstehung,
Leben nach dem Tode, Erbsünde. Erst wenn festgestellt werde - so Schulz - was
verbindliche kirchliche Lehrmeinung sei, könne festgestellt werden, wo er sich
von ihm entferne. Das wurde abgelehnt und er wurde wegen des Widerspruchs
seiner Lehre zum Ordinationsgelöbnis entlassen.
Der Vorsitzende des
Spruchkollegiums bemerkte dazu "Evangelisches Verständnis rechter
Verkündigung kann und darf nicht an einer juristischen Orientierung von
Satzwahrheiten gemessen werden." Immerhin ist festzuhalten, daß Pastor
Schulz gerade aus juristischen Gründen, und zwar wegen des Widerspruchs seiner
Lehre zum offenbar wörtlich verstandenen Bekenntnis der Kirche, den Dienst
quittieren mußte.
Einen weiteren Punkt, den ich
hier ansprechen will, ist eine Umfrage auch unter Pfarrern nach dem, was sie
glauben. Sie wurde von dem praktischen Theologen Klaus-Peter Jörns durchgeführt
(publiziert 1996) und hatte folgendes Ergebnis:
Nur noch zwei Drittel der
Gemeindepfarrer erkennt Jesus Christus das Gottesprädikat zu.
Nur ein Drittel hält die
Heilige Schrift noch für heilig
43 Prozent glauben noch an die
Allmacht Gottes.
An die zentrale
biblisch-theologische Aussage der Erbsünde glauben nur noch 13 Prozent der
befragten Pfarrer.
Mit einem Jüngsten Gericht
rechnet nur noch ein Drittel dieser Pastoren.
Ich halte diese Entwicklung,
daß Pfarrer sich vom Bekenntnis der Kirche innerlich abwenden, nur für
natürlich. Nicht begrüßenswert ist aber, daß dieselben Pfarrer der verlängerte
Arm der widerlegten Glaubensideologie der Kirche bleiben.
Und nicht nur dies: Auch alle,
die Religion an Schulen lehren, können das nur, wenn sie einer Kirche angehören
und von der Kirche die Vocatio (Berufung) dazu haben.
Das steht so in Art. 7 unseres Grundgesetzes, der einen konfessionellen
Religionsunterricht vorsieht, und zwar nach den Grundsätzen der jeweiligen
Religionsgemeinschaften.
Auch in diesen Fällen ist der
Befund ausgesprochen doppeldeutig. Natürlich unterrichten die meisten
Gymnasiallehrer nicht nach den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften. Ich
habe noch nie von einem Kurs über die Bekenntnisschriften der
evangelisch-lutherischen Kirche gehört, der an deutschen Gymnasien erteilt
wurde. Innerhalb des Zirkels der religionspädagogischen Institute herrscht zudem
eine Liberalität und Offenheit, die bis zur scharfen Kirchenkritik reicht. Ihre
Vertreter haben sich schon längst von der dogmatischen Welt des kirchlichen
Bekenntnisses entfernt und sprechen daher durchweg von Symbolen der Bibel oder
von Symboldidaktik. Es liegt auf der Hand, daß die so verwendeten Symbole der
Bibel wenig mit dem Bekenntnis zu Jesus dem Weltenherrn oder mit seiner
Wiederkunft zum Gericht zu tun haben. Trotzdem: Kommt es dann aber zum Schwur
wie in meinem Fall, dann erschallt von der Seite der Religionspädagogen nur wenig
oder kein Protest zu meinen Gunsten. Man schlägt sich einfach auf die Seite der
Kirche, ohne dagegen zu protestieren, daß meine Kurse über das Neue Testament
für die Zwischen- und Examensprüfung auch künftiger Gymnasiallehrer nicht mehr
zählen, d.h. von der staatlichen Prüfungsbehörde nicht anerkannt werden.
Das Fazit kann an diesem Punkt
nur lauten: Wir blicken der Unwahrhaftigkeit direkt ins Gesicht. Denn
konfessioneller Religionsunterricht und konfessionelle Verkündigung folgen
einer doppelten Wahrheit: erstens der Wahrheit des kirchlichen Bekenntnisses,
das spätestens im Konfliktfall gilt; zweitens der wissenschaftlichen Wahrheit,
die dort, wo kein Konfliktfall vorliegt, vermittelt wird. Beide aber sind, wie
oben gezeigt wurde, schwerlich miteinander zu versöhnen. Ich kann nicht mit dem
Herzen glauben, wozu der Verstand nein sagt. Aber auch die weitere Spielart der
Vermittlung, im Herzen ein Christ zu sein und mit dem Verstand ein Atheist, muß
ausscheiden, denn das macht auf Dauer krank. Es gibt wohl nur ein Entweder-Oder
zwischen christlicher Dogmatik und Wissen.
Eine schreckliche Vermutung zum
Schluß: Den kirchlichen Funktionären, die zum großen Teil selbst Theologie
studiert haben, ist das alles nicht unbekannt. Trotzdem verteidigen sie den
gegenwärtigen Status quo fast um jeden Preis, eben um den Preis der Unwahrhaftigkeit
und der Lüge, um die eigene Macht zu erhalten. Das auszusprechen, fällt mir
schwer. Aber Gefühle haben mit der harten Welt der Tatsachen nichts zu tun. Es
ist wohl leider so, wie ich es Ihnen gesagt habe.
Dabei hat besonders die
evangelische Theologie eine imponierende Leistung vorzuweisen und ist ein
wichtiger Bestandteil deutscher Geistesgeschichte gewesen. Zu Anfang dieses
Jahrhunderts faßte Albert Schweitzer ihre Bedeutung so zusammen:
"Wenn einst unsre Kultur
als etwas Abgeschlossenes vor der Zukunft liegt, steht die deutsche Theologie
als ein größtes und einzigartiges Ereignis in dem Geistesleben unsrer Zeit
da."
Schweitzer bezog sich mit
dieser Bemerkung einmal auf die unbestechliche, in der Wahrhaftigkeit
gegründete Erforschung der Quellen christlichen Glaubens, wie sie im Alten und
Neuen Testament vorliegen. Sodann hatte er die von jeder neuen Generation
unternommenen Versuche im Blick, die Botschaft der Bibel mit der jeweiligen
Welt des Betrachters in eine ehrliche Beziehung zu setzen.
Man mag hinzufügen: Die so auf
deutschen Lehrstühlen betriebene wissenschaftliche Theologie hat überall in der
Universitätswelt, wo es theologische Fakultäten gab, Maßstäbe gesetzt, und
zumindest bis Mitte dieses Jahrhunderts war Deutsch die Wissenschaftssprache
internationaler Theologie. Worin ist die Kraft einer so betriebene Theologie begründet?
Wie geht sie vor?
Ihr Ansatz besteht erstens
darin, die eigene Religion radikal historisch zu erforschen. Das führt in den
meisten Fällen zu Ergebnissen, die diametral im Gegensatz zu Aussagen der Bibel
stehen. Wie oben bereits begründet wurde, ist Jesus nicht der Sohn einer
Jungfrau, er wollte nicht für die Sünden der Menschen sterben, und er ist mit
Sicherheit nicht aus dem Grabe gestiegen, wie es die Evangelien voraussetzen -
nämlich leibhaftig.
Zweitens übt die
wissenschaftliche Theologie einen konsequenten Religionsvergleich und setzt das
frühe Christentum zu anderen mit ihm gleichzeitigen Religionen in Beziehung.
Das führt dann oft gegen den Anspruch der biblischen Verfasser zu einer
Relativierung des christlichen Glaubens. So sind praktisch alle Lehren Jesu in der
jüdischen Religion seiner Zeit nachzuweisen, angefangen vom Liebesgebot bis hin
zu den Gleichnissen; und auch was das Neue Testament "Glauben" nennt,
hat zahlreiche Entsprechungen außerhalb der frühen Kirche.
Drittens und viertens fließen
in die theologische Arbeitsweise soziologische und psychologische
Fragestellungen ein. Diese führen zu einem besseren Verstehen frühchristlicher
Gemeinden und der in ihnen handelnden Personen. Jedoch ergibt sich auch hier
ein deutlicher Unterschied zu dem von der Bibel gezeichneten Bild. Was sie in
bezug auf die Gemeinde und in bezug auf Einzelpersonen "Erfüllt-Sein mit dem Heiligen Geist" nennt, war in
Wirklichkeit eine Massenpsychose oder die Halluzination eines hocherregten
Individuums. In jedem Fall handelte es sich um innerseelische Vorgänge und
nicht um übernatürliche Eingaben, wie das kirchliche Dogma bis heute annimmt.
Theologische Wissenschaft
bedeutet in den meisten Fällen eine Relativierung der Wahrheitsansprüche der
christlichen Kirchen. Aber gleichzeitig besucht, in Deutschland bis heute,
deren Nachwuchs zur wissenschaftlichen Vorbildung die staatlichen theologischen
Fakultäten.
Der hier vorliegende Konflikt
zieht sich wie ein roter Faden durch die Theologiegeschichte der beiden letzten
Jahrhunderte hindurch. Er wird von der heute herrschenden Theologie überwiegend
so gelöst, daß sie sich als kirchliche Wissenschaft versteht. Der Wert einer
Theologie wird dann danach bemessen, inwieweit sie der Kirche dient.
Ich möchte demgegenüber dafür
plädieren, daß der Wert der Theologie als Wissenschaft davon abhängt, inwieweit
sie der Wahrheit verpflichtet ist. Wissenschaft strebt Objektivität an und kann
schon deswegen niemals vorweg den Wahrheitsanspruch der Kirchen voraussetzen.
Theologie kann überhaupt keine kirchliche Wissenschaft sein. Entweder ist sie
freie Wissenschaft oder sie ist gar keine. Die Wissenschaft vom christlichen
Glauben ist so wenig christlich, wie die Wissenschaft vom Verbrechen
verbrecherisch ist.
Nun kann und wird man natürlich
im Namen einer kirchlich gesonnenen Theologie gegen das soeben dargestellte
Programm einer wissenschaftlichen Theologie den Vorwurf erheben, es lege ein
historisches, empirisches und auch wissenschaftlich gesehen verengtes
Wirklichkeitsverständnis zugrunde. Ich zitiere einen ihrer Vertreter, den
Systematiker Dalferth aus Zürich, der sich kritisch
mit meiner Auffassung der Auferstehung auseinandergesetzt hat. Er schreibt:
"Das Leben umfaßt mehr, als die Wissenschaften auf ihre methodisch
abstrahierende ... und präparierende Art und Weise erfassen. Und ‚Gott’ steht
für mehr als das, was das Leben umfaßt. Auf dieses Mehr zielt die
Theologie". Für Dalferth ist "historisches
Fragen (für sich) genommen noch nicht einmal eine Annäherung an das, um das es
im Auferweckungsbekenntnis geht. Solches Fragen ist theologisch unzureichend,
weil es gerade das methodisch ausblendet, worum es in dem christlichen
Bekenntnis zentral geht: die Auferweckung des Gekreuzigten". Um ein evtl.
Mißverständnis auszuschliessen, läßt Dalferth ausdrücklich historische, psychologische,
physikalische und wissenssoziologische Fragen zu, doch nur mit dem Ziel,
"die Wahrnehmung der Wirksamkeit Gottes in den Erfahrungen der Zeit"
zu präzisieren. Und weiter besteht er darauf, daß unter Absehung von Gott die
dem christlichen Auferweckungsbekenntnis zugrundeliegenden Erfahrungen nicht zu
erklären und zu verstehen seien.
Diese Ausführungen hinterlassen
bei mir vorwiegend Ratlosigkeit. Ich brauche nicht darüber belehrt zu werden,
daß das Leben mehr umfasse als die Wissenschaften erfassen. Diese Einsicht ist
jedermann evident, der mit offenen Augen lebt. Die eigentliche Frage stellt
sich aber, wieso und kraft welchen Erkenntnisprivilegs Dalferth
und alle, die seiner Meinung sind, für ihre Disziplin den Rang einer Wissenschaft
beanspruchen. Auf sie trifft eher der Ausdruck "Meinerei"
zu, die unverzüglich von der Universität verschwinden wird, sobald die Macht
der Kirche ihr nicht mehr die Stange halten kann. In ihr ist nämlich
"Gott" eine unhinterfragbare Größe, die in den modernen
wissenschaftlichen Disziplinen gar nicht mehr vorkommt, und dies mit Recht.
Theologie kann nur dann den
Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Disziplin zu sein, wenn sie sich dem
Kanon und den Regeln der modernen europäischen Universität einordnet und von
Erkenntnisprivilegien jeglicher Art - auch von dem Privileg der Erkenntnis
Gottes - Abschied nimmt. Theologie ist insofern eine geschichtliche Disziplin,
als sie das Christentum mit Hilfe der historisch-kritischen Methode untersucht.
Für die historische Methode sind drei Voraussetzungen grundlegend: die
Kausalität, die Berücksichtigung von Analogien und die Erkenntnis von der
Wechselbeziehung der historischen Phänomene zueinander. Ihre Arbeitsweise folgt
dem methodischen Atheismus der Neuzeit ("als ob es Gott nicht gäbe"),
der freilich von einem dogmatischen Atheismus zu unterscheiden ist. Befreit von
den übernatürlichen Voraussetzungen und ausgerüstet mit einem Instrumentarium
historischer Kritik hat die so verstandene Theologie als wissenschaftliche
Disziplin geradezu eine kopernikanische Wende für alle Kirchen- und
Religionsgemeinschaften zur Folge. Ihr Siegeszug durch die Universitäten in den
letzten drei Jahrhunderten ist eindrücklich. Sie hat sich in den
geisteswissenschaftlichen Disziplinen behauptet und völlig neue Einsichten
geliefert.
Die historische Methode ist
Teil des emanzipatorischen Prozesses wissenschaftlicher Neugierde. Sie möchte
Sinngebungen nachvollziehen, d.h. verstehen, muß sich aber, will sie denn
Objektivität anstreben und die Welt entzaubern, gerade deshalb von allen ihr begegnenden
fremden Ansprüchen emanzipieren:
Vom Anspruch des kanonischen
Status bzw. der Heiligkeit bestimmter Schriften, vom Anspruch einer
Offenbarung, da Offenbarung kein wissenschaftlicher Begriff ist, vom Anspruch,
zwischen Rechtgläubigkeit und Ketzerei in einem Sinn zu unterscheiden, der über
die Rekonstruktion und Wahrnehmung historischer Ansprüche hinausgeht. Denn hier
stehen essentiell nicht entscheidbare dogmatisch-theologische Urteile einander
gegenüber.
Die historische Methode
verweigert eine Antwort auf die religiöse Wahrheitsfrage und kann nur
verschiedene Wahrheitsansprüche miteinander vergleichen. Sie ist darin ideologiekritisch.
Als geschichtswissenschaftliches und philologisches Instrument ist sie den
Methoden der Geisteswissenschaften in all ihren Ausprägungen verpflichtet.
Entscheidend bei der Übernahmen neuer Methoden aus den Nachbardisziplinen
Soziologie, Psychologie, Ethnologie u.a. ist deren Überprüfbarkeit und
Effizienz in der Aufhellung geschichtlicher Phänomene. Ihre Voraussetzungen
müssen revidierbar bleiben und können immer nur durch ihre erklärende und
deutende Wirkung, aber nicht durch kirchlichen Machtwillen in Geltung gehalten
werden.
Rede ich hier an Dalferth und seinen Vorgängern und Nachfolgern vorbei? Um
sicherzustellen, daß dies nicht der Fall ist, sei betont: Wenn Dalferth den Wahrheitsanspruch der christlichen Rede von
Gott als unabdingbare Voraussetzung theologischer Reflexion einführt, dann
sollte er sich zunächst einmal dem Befund stellen, daß die Bibel - schon
sichtbar an ihren verschiedenen Gottesbezeichnungen - eine Vielzahl
unterschiedlichster Gottesbilder enthält. Auf welchen Gott will man sich denn
einigen, wenn es um Wahrheitsansprüche geht, die wissenschaftlich diskutierbar
sein sollen? So haben Juden und Christen jedenfalls dasselbe heilige Buch, das
Alte Testament bzw. die hebräische Bibel und damit denselben Gott. Wie aber
verhält sich dieser zum Gott des Neuen Testaments, der dem christlichen Bekenntnis
zufolge seinen Sohn in die Welt gesandt hat? Ist nicht schon die Existenz
verschiedener Religionen - Judentum einerseits, Christentum andererseits - mit
derselben Bibel und demselben Gott ein starkes Argument gegen den Wahrheitsanspruch
der christlichen Religion? Als weiterer Einwand kommt die Existenz des Islam
hinzu, dessen Gottesgedanke einerseits auf der Bibel fußt und andererseits arabische
Elemente enthält. (Der Allah des Koran ist schon sprachlich eine arabische Gottheit.)
Kirchliche Theologen mögen
angesichts dieses Befundes mit einer höheren Einsicht oder Offenbarung
argumentieren. Aber dasselbe werden der jüdische oder der muslimische Theologe
auch tun, und beide werden nachdrücklich die christliche Lehre von der Dreieinigkeit
Gottes zurückweisen. Hier tut sich also ein neuer Bereich, der des Glaubens
auf. Wenn es sich um echt-religiösen Glaube handelt, dürfte er rationaler
Argumentation nicht zugänglich sein. Kein Glaube kann durch Argumente widerlegt
werden. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Erwartung des nicht
eingetroffenen Weltenendes im frühen Christentum,
aber auch im 20. Jahrhundert. Als das Ende nicht kam, gaben die meisten
Gläubigen ihren Glauben nicht auf. Ganz im Gegenteil. Man legte die Verzögerung
des Endes als neue Offenbarung, als Ausdruck der Langmut Gottes, als
allerletzte Frist oder wie auch immer aus. Man glaubte noch stärker, weil man
glauben wollte, und schottete sich so von der Realität ab.
Nun garantiert unser
Grundgesetz die Glaubensfreiheit für alle, auch für die Religionsgemeinschaften.
Eine andere Frage ist aber, ob sie - in diesem Fall die Kirchen - aus dem
Grundgesetz das Recht auf einen eigenen Wissenschaftsbegriff herauslesen
dürfen. Dies ist ja die Meinung der gegenwärtig maßgeblichen Kirchenrechtler. So
schreibt Martin Heckel:
"Der moderne freiheitliche
Kulturstaat fördert die verschiedenen Wissenschaften, Kunstrichtungen,
sonstigen Kulturphänomene pluralistisch und frei jeweils in der Verschiedenheit
und Vielfalt ihres geistigen - auch religiösen und weltanschaulichen - Profils.
Er hat sich verfassungsrechtlich versagt, sie auf den nivellierenden Leisten
eines autoritativen Wissenschafts- bzw. Kunstbegriffs zu schlagen. Die Garantie
der Wissenschaftsfreiheit in Art. 5 III GG ist nach so gut wie unbestrittener
Auffassung im Sinne pluralistischer Offenheit und Enthaltsamkeit des Staates
von einer materialen Selektion und Präklusion des
Wissenschaftsbegriffs der Verfassung zu verstehen. Sie schützt auch die
Theologie als eigenen überkommenen Wissenschaftszweig von kaum bestreitbarem,
in der Breite anerkanntem Rang in der deutschen Wissenschaftstradition. Als
eigene Wissenschaft wurde die Theologie faktisch wie rechtlich von den
Verfassungen vorgefunden und normativ weiter anerkannt und garantiert."
Das Motto der juristischen und
heute geltenden Ausführungen Heckels ist: Weil es immer so war, muß es weiter
so bleiben. Auf die Idee, daß die Existenz verschiedener theologischer
Fakultäten ein gewichtiges Argument gegen die Theologie als wissenschaftliche
Disziplin ist, scheint Heckel nicht zu kommen. Vielmehr entkräftet er dies mit
dem Argument, daß der Staat in Sachen Wissenschaft pluralistisch denke. Merkt
er nicht, daß damit der Beliebigkeit innerhalb der Universität Tür und Tor
geöffnet wird? Die Wissenschaften außerhalb der Theologie werden sich solche
Beliebigkeiten verbieten, falls sie die Theologie überhaupt noch ernstnehmen.
Außerdem hat Heckel die neueste
Epoche historisch-kritischer Wissenschaft ebenso wie seine juristischen
Kollegen nicht wahrgenommen und versteht unter Theologie immer die dogmatische
Theologie. Für ihn ist das Evangelium nicht nur unverkürzt in den Worten und
Taten Jesu sowie seiner Auferstehung enthalten, es ist gleichzeitig,
reformatorisch geurteilt, die "Wahrheit und das Erlösungshandeln Gottes,
welches aus dem sola scriptura,
sola gratia, sola fide erwächst und von Sünde, Irrtum und Zorn Gottes
zum Glauben und Heil befreit."
Ich nenne es Unaufrichtigkeit,
ja, Unterdrückung der historischen Wahrheit hinsichtlich der Ursprünge des
Christentums, wenn im Streit um meinen Lehrstuhl an der theologischen Fakultät
sich wissenschaftliche Theologen des Votums von Heckel bedienen, um meine
Entfernung aus der theologischen Fakultät zu empfehlen. Es entspricht theologischem
Analphabetentum, wenn die Richter des OVG Lüneburg mit folgenden Argumenten die
Sanktionen gegen meine Person begründen: Lüdemann habe sich öffentlich vom
Christentum losgesagt und erklärt, er sei nicht mehr Christ, "er glaube
nicht mehr an Christus. Dieser sei nicht ohne Sünde gewesen und nicht Gottes
Sohn. Er habe das Sakrament des Abendmahls nicht eingesetzt, sei nicht den
Sühnetod gestorben, nicht auferstanden und werde nicht zum Jüngsten Gericht
wiederkommen."
Diese von der Kirchenbehörde
sachlich vorformulierten und vom OVG Lüneburg übernommenen Sätze stammen von
staatlichen Juristen. Sie nehmen offenbar die überlieferten zentralen
Glaubenssätze für bare Münze und wissen nicht bzw. haben niemals Unterricht
darüber erhalten, daß die moderne Bibelwissenschaft alle angeführten Aussagen
als unhistorisch erwiesen hat. Die Richter bedienen sich, um die oben
angeführte Formulierung zu benutzen, einer juristischen Satzwahrheit, die im
Verfahren gegen Paul Schulz von kirchlicher Seite noch als unprotestantisch
bezeichnet worden war.
Nun - da man einen Abweichler
loswerden will, ist offenbar jegliches juristisches Mittel recht. Die
gegenwärtige Lage erinnert mich daran, daß kein evangelischer Theologieprofessor
unter Hinweis auf das wissenschaftlich abgesicherte Wissen protestierte, als
der Erzbischof von Paderborn, Degenhardt, Eugen Drewermann u.a. wegen dessen
symbolischem Verständnis der Jungfrauengeburt die Lehrerlaubnis entzog.
Offenbar geht es in diesen
Auseinandersetzungen gar nicht mehr um die Wissenschaftlichkeit der Theologie,
sondern darum, ihren Platz innerhalb der Universität zu erhalten, zu der sie
wegen ihrer kirchlichen Bindung eigentlich nicht mehr gehört. Denn wer behauptet,
Wissenschaft zu betreiben, und bei seiner Arbeit die Wahrheit des kirchlichen Bekenntnises nicht antasten darf und will, schlägt der
Wissenschaft ins Gesicht. Wie er es auch immer drehen mag, er ist unter diesen
Voraussetzungen ein Diener der Kirche und nicht der Wissenschaft.
Dieses harte Urteil ist umso
bedauerlicher, als viele der konfessionellen Theologen philologisch und
historisch Hervorragendes leisten und geleistet haben. Aus der Bindung an die
Kirche kommen sie aber nicht heraus, da diese das Recht hat, ihre Lehre zu beanstanden.
Unter diesem Vorzeichen kann eine wirklich freie Wissenschaft nicht entstehen
oder gar gedeihen. Konfessionelle Theologie als Wissenschaft entspricht demnach
der Quadratur des Kreises. Wer als konfessioneller Theologe trotzdem die
Wissenschaftlichkeit für seine gesamte Arbeit in Anspruch nimmt, sagt nicht die
Wahrheit. Er lügt.
Bei der Untersuchung der
theologischen Fakultäten in Deutschland ergibt sich demnach ein ähnliches
Ergebnis wie bei der Betrachtung der Kirche. Wir begegnen dem Spiel mit einer
doppelten Wahrheit: der Wissenschaftlichkeit einerseits und der kirchlichen
Bindung andererseits. Und das Eigentliche der konfessionellen Theologie wird
neuerdings immer klarer in ihrer kirchlichen Funktion gesehen. Ich würde
meinen: Wenn letzteres allgemein bekannt würde, wären die Stunden der Theologie
an der deutschen Universität gezählt. Denn warum sollten dann die Kirchen für
die Ausbildung ihres theologischen Nachwuchses nicht auch die Finanzen
aufbringen?
Die Rolle der Kirche bei der
Besetzung theologischer Fakultäten und überhaupt ihre enge Zusammenarbeit mit
dem Staat wurde bereits mehrfach angesprochen. Jetzt ist noch abschließend
darzustellen, wie sich Kirche darstellt und nach welchen Maßstäben man
arbeitet. Zunächst: Beide großen Kirchen reden in der Öffentlichkeit möglichst
gemeinsam, um ihren Einfluß aufrechtzuerhalten. Hingewiesen sei auf das
Sozialwort aus dem Jahre 1997 und ihr Engagement gegen die Freigabe der
Ladenschlußzeiten. Sodann beanspruchen die Kirchen, Hüterinnen des Wertesystems
zu sein. Dieser Punkt wird in der Regel von der hohen Politik aufgegriffen. Bei
einem Treffen der lutherischen Kirche Bayerns mit der bayerischen
Landesregierung führte Ministerpräsident Stoiber dazu aus: Auch eine offene
Gesellschaft brauche notwendig den Beitrag der christlichen Kirchen für ein
humanes Zusammenleben. Stoiber:
"Die Kirchen können wie
keine andere Institution den Menschen eine gemeinsame Wertorientierung
vermitteln. Der Grundkonsens über gemeinsame Werte garantiert ein Zusammenleben
in sozialem Frieden und stabilisiert das geistige Klima in unserem Land.
Übereinstimmung in zentralen Grundwerten schafft den besten Nährboden für ein
sozial, kulturell und geistig lebendiges Gemeinwesen."
Mit Verlaub : Wie kann die
lutherische Kirche wirklich einen Beitrag zu einem humanen Zusammenleben
leisten, wenn die heilige Schrift und die lutherischen Bekenntnisschriften die
humanen Werte der Toleranz und des gleichen Rechtes für alle gar nicht kennen?
Wie können Lutheraner in einem demokratischen Gemeinwesen wirklich mitarbeiten,
wenn der christliche Gott Gehorsam verlangt und wechselnde Mehrheiten nie
akzeptieren wird?
Zusätzlich sei gefragt: Wie
kann der neuerdings propagierte Dialog zwischen Protestantismus und Kultur
gelingen, wenn die zutiefst ablehnende Haltung der frühen Christen zur
weltlichen Bildung erkannt ist?
Mit anderen Worten: Der Beitrag
der Kirche zur humanen Gesellschaft und zur Kultur wird nur stattfinden, wenn
die Kirche auf weite Teile der biblischen Inhalte verzichtet.
Das tun ihre Vertreter auch,
aber wiederum nur auf doppelbödige Weise. Sie lassen oft stillschweigend die
dunklen, grausamen, drohenden Seiten des frohen Botschaft aus. Die positiven
Seiten werden dann beispielsweise so beschrieben, als ob die Bibel aus lauter
Liebesgeschichten Gottes mit den Menschen bestände oder Kultur einen positiven
Bezug in der heiligen Schrift hätte. Auch das ist angesichts des Inhalts der
Bibel unwahrhaftig. Die Kirche muß die Wahrheit unterdrücken, um in der
Gesellschaft hoffähig zu bleiben.
Wie das funktioniert, sei
abschließend am Beispiel des Umgangs der Kirche mit den Juden gezeigt.
Angesichts von antisemitischen Erscheinungen in unserer Gesellschaft hat die
Kirche zum Kampf gegen rechts und zur Solidarität mit den jüdischen Gemeinden
aufgerufen. Das ist gut so. Nicht so gut ist es aber, wenn nun schon seit
längerem behauptet wird, daß das Neue Testament und besonders der Apostel
Paulus niemals dem nicht-christusgläubigen Israel die Erwählung Gottes
abgesprochen habe.
So stellte kürzlich die
Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen (1999) fest: "Juden
und Christen bezeugen je für sich und füreinander die Treue Gottes, von der sie
beide leben. Deshalb achten Christinnen und Christen jüdische Menschen als
Schwestern und Brüder im Glauben an den Einen Gott. Der offene Dialog über
Gottes Gnade und Wahrheit gehört zum Wesensmerkmal der Begegnung von Christen
mit Juden. Diese Einsichten lassen nicht zu, dass Christen Juden auf den
christlichen Glauben verpflichten wollen. Deshalb distanziert sich die
Landessynode der Evangelischen Kirche von Westfalen von jeglicher
Judenmission."
Damit verharmlost die Kirche
die Rolle, die das Neue Testament in der Entstehung des Antisemitismus gespielt
hat, und man fragt sich, warum die heilige Schrift fast 2000 Jahre lang im Sinne
einer Alternative zwischen Kirche und ungläubigem Israel gelesen werden konnte.
Wie gesagt, die Botschaft zur Versöhnung zwischen Juden und Christen ist gut.
Sie kann aber nur vom Neuen Testament her gewonnen werden, weil die Kirche sich
über ihre eigene Vergangenheit belügt.
Ich stehe am Ende meines
Vortrags, der viel Negatives sagen mußte. Das ist mir nicht leicht gefallen, da
viele Menschen Opfer der Institution Kirche sind. Und es ist ein Alarmsignal
für unsere Gesellschaft, wenn der zweitgrößte Arbeitgeber Deutschlands nicht
nur unglaubwürdig, sondern auch in sich zerbrochen ist und eigentlich nur durch
den Staat und durch die von ihm verliehenen Vorrechte am Leben erhalten wird.
Es gibt eine Menge gutwilliger
Menschen in dieser Kirche, die Gutes tun und glauben wollen, viele Pfarrer und
Pfarrerinnen, die keine andere Wahl haben, als weiter für die Kirche zu
arbeiten. Meine Hoffnung ist, daß sie alle auch dann noch einen Weg nach vorn
finden, wenn die Kirche und ihre äußere Macht wie ein Kartenhaus
zusammenstürzt.
Irgendwann schlägt jedem das
intellektuelle Gewissen. Dann wird es Zeit, entschlossen Nein zu sagen und
einen Schritt nach vorne zu tun, auch wenn es weh tut.