Armin Pfahl-Traughber

Haben die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge?

Kritische Reflexionen zu einem immer wieder postulierten Zusammenhang

Veröffentlicht in: humanismus aktuell H. 5, 1999, 66-77;
© Prof. Dr. Pfahl-Traughber, Fachhochschule des Bundes (BMI), 53913 Swisttal

Zur Fragestellung

Ist das moderne Menschenrechtsverständnis originär durch die christliche Religion bedingt? Läßt es sich direkt aus der Bibel ableiten? Die Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit und der daraus abgeleiteten Würde aller Menschen scheinen einen solchen Zusammenhang zu bestätigen. Entsprechend bemerkt auch der Moraltheologe Johannes Gründel: "Insofern geht die neuzeitliche Rede von Menschenrechten auf das Erschaffenwerden des Menschen durch Gott als letzten Ursprung zurück." Gleichzeitig hebt der Autor aber auch hervor, "daß sich die Menschenrechte im Verlauf der abendländischen Geschichte nicht von der Kirche her, sondern gegen die Kirche als Institution und gegen die von der Kirche getragene Theologie herausgebildet haben. Es wäre darum problematisch, wollte man jetzt nachträglich unmittelbar eine biblische Begründung der Menschenrechte nachschieben oder der Herausbildung der Menschenrechte voranstellen."(1)

Ähnlich äußert sich auch der Religionstheoretiker und Politologe Hans Maier: "Menschenrechte und Menschenwürde sind nicht denkbar ohne das Werk christlicher Erziehung durch Jahrhunderte hindurch. ... Aber ebenso wahr ist, daß die Kirche auf Idee und Bewegung der Menschenrechte lange Zeit mit Skepsis, ja mit Ablehnung reagiert hat."(2) Den letztgenannten Aspekt bestätigen auch die beiden Theologen Wolfgang Huber und Heinz Eduard Tödt: "Die Menschenrechte sind ... vorwiegend gegen den Willen von Theologie und Kirche zur Geltung gebracht worden."(3) Alle genannten Autoren gehen demnach von einem offenkundigen Widerspruch von Idee und Praxis im Verhältnis von Christentum und Menschenrechten aus, behaupten sie doch einerseits eine ursprüngliche Prägung des Verständnisses der Menschenrechte durch das Christentum und konstatieren andererseits den erklärten Widerstand der Institution der Kirche gegen deren gesellschaftliche Umsetzung in der Geschichte.

Dabei vermeiden die Autoren aber eine nähere inhaltliche Erörterung der Ursachen für diesen Antagonismus und liefern so auch keine klärende Antwort auf die Frage nach den Gründen für die hiermit zusammenhängende Entwicklung. Als eine solche Erklärungsmöglichkeit bietet sich die Auffassung an, daß eine ideale Vorstellung durch die historischen Umstände real pervertiert wurde und die Akteure vor dem Hintergrund dieser Rahmenbedingungen ihre Einstellungen nicht umsetzten konnten. Derartige Aussagen dürfen keineswegs pauschal als bloße Ausflüchte abgetan werden, läßt sich doch auch in anderen Fällen in der Geschichte der Menschenrechte ein Widerspruch von bekundetem Ideal und vollzogener Praxis feststellen(4). Hier soll gegenüber solchen Interpretationen aber eine andere Erklärung vorgetragen werden, welche im Kern davon ausgeht, daß sich die christlichen Religionsvorstellungen und säkularen Menschenrechte auf unterschiedlichen Ebenen artikulierten und demgemäß gar keine originäre Bedingtheit im Verhältnis von beidem bestand.

Das moderne Menschenrechtsverständnis

Bevor aber auf die Frage, ob die modernen Menschenrechte christliche Grundlagen und Ursprünge haben, eingegangen werden kann, bedarf es zunächst der Vergewisserung darüber, was eben jene modernen Menschenrechte ausmacht. Auskunft darüber gibt deren Verankerung in grundlegenden Erklärungen und Verfassungen der Neuzeit, sei es die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 oder die Erklärung der Rechte der Bürger und der Menschen in Frankreich 1789, sei es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Generalversammlung der Vereinten Nationen von 1948 oder das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949. Aus diesen Texten lassen sich sowohl die allen Menschen zugeschriebenen konkreten Rechte, aber auch deren Begründungskontext ableiten. Die Bedeutung von letzterem wird häufig genug nicht ausreichend gewürdigt, obwohl sich doch gerade daraus elementare Besonderheiten der Menschenrechte hinsichtlich ihrer Adressaten, Gültigkeit und Legitimität ergeben.

Zunächst aber zu einer allgemeinen Definition von Menschenrechten: Dabei handelt es sich um Rechte, die allen Menschen, also nicht nur den Bürgern eines gesonderten Staates zugeschrieben werden. Genau in dieser Besonderheit ist denn auch der Unterschied zwischen Bürger- und Menschenrechten zu sehen. Im einzelnen können die mit letzteren gemeinten konkreten Rechte verstanden werden als Handlungsmöglichkeiten des Individuums oder als Schutz vor dessen Diskriminierung. Einerseits gehören demnach zu den Menschenrechten das Recht auf Freiheit und Leben der Person, die Gewissens- und Religionsfreiheit, Informations- und Meinungsfreiheit, Vereins- und Versammlungsfreiheit, aber auch die Anerkennung als Rechtsperson und der Anspruch auf rechtliches Gehör. Andererseits gehören demnach zu den Menschenrechten das Verbot der Benachteiligung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Ethnie oder einem Geschlecht, der Akzeptanz einer politischen oder religiösen Überzeugung oder des sozialen und wirtschaftlichen Status.

In den erwähnten Menschenrechtserklärungen finden sich neben der Auflistung solcher konkreter Rechte aber auch noch Angaben zum bereits erwähnten Begründungskontext(5): Zunächst einmal wird davon ausgegangen, daß die genannten Rechte allen Menschen als Menschen eigen sind. Dies bedeutet, daß sie nicht von einer wie auch immer gearteten Instanz geschenkt oder gewährt werden und dadurch ein Abhängigkeits- und Schuldigkeitsverhältnis bestünde. Vielmehr gelten die Menschen von Natur aus als frei und gleich an Rechten und Würde sowie als mit Gewissen und Vernunft begabt. Der eigentliche Träger dieser somit als vorstaatlich anzusehenden Rechte ist demnach auch nicht eine Gruppe oder ein Kollektiv, sondern der einzelne Mensch. Und schließlich ergibt sich aus der naturrechtlichen Begründung und individualistischen Prägung auch der universelle Charakter der Menschenrechte. Unabhängig von der kulturellen, politischen und sozialen Entwicklung eines Landes können Menschen die ihnen zustehenden Rechte beanspruchen.

Mit diesem Postulat darf verständlicherweise nicht der Grad von gesellschaftlicher Verankerung von Menschenrechten ignoriert werden: Das objektive Verfügen über ein Recht bedeutet nicht notwendigerweise seine konkrete Inanspruchnahme. Insofern lassen sich im Laufe der historischen und politischen Entwicklung auch unterschiedliche Stadien des Stellenwertes von Menschenrechten feststellen. Zunächst wurden sie philosophisch entwickelt, flossen aber weder in die verfassungsmäßigen Grundlagen noch in die gesellschaftspolitische Praxis ein. Im Zeitalter der Amerikanischen und Französischen Revolution verankerte man die Menschenrechte indessen zwar konstitutionell, aber anerkannte sie in der Realität nicht allen Menschen im jeweiligen Staat. Erst im 20. Jahrhundert gelang es in den westlichen Demokratien einen weitgehenden Einklang von philosophischer und rechtlicher Verankerung und gesellschaftlicher und politischer Umsetzung von Menschenrechten herzustellen.(6)

Eine weitere – vor dem Hintergrund der zu erörternden Thematik wichtige – Besonderheit des beschriebenen modernen Menschenrechtsverständnisses ist deren rein säkularer Charakter, d.h., daß religiöse Momente im Sinne einer bestimmten inhaltlichen Ausrichtung oder einer gesonderten Legitimität keine Rolle spielen. Zwar finden sich in manchen Erklärungen wie etwa der der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Äußerungen, wonach die Menschen von ihrem Schöpfer mit gewissen unabsehbaren Rechten ausgestattet seien. Die hierbei deutlich werdende religiöse Prägung der Autoren bedingte aber keine besondere inhaltliche Ausrichtung der Menschenrechte. Daher kann in einer solchen Formulierung der Verweis auf den Schöpfer mit dem Verweis auf die Natur ohne Konsequenzen für den Bedeutungsgehalt und Stellenwert der Menschenrechte ausgetauscht werden. Hinzu kommt, daß sie sich inhaltlich auch nicht auf das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen, sondern auf das Verhältnis der Menschen untereinander beziehen.

Antike Grundlagen der Menschenrechte

Die oben erwähnte Annahme, wonach das moderne Menschenrechtsverständnis originär christlich bedingt und geprägt sei, setzt voraus, daß es vergleichbare Auffassungen vorher nicht gab. Indessen veranschaulicht der Blick in die heidnische Antike, daß bereits in der vor-christlichen Zeit ethische Prinzipien bestanden, welche als Vorläufer und Wegbereiter des modernen Menschenrechtsverständnisses anzusehen sind.(7) Der Jurist Klaus Adomeit sieht sogar in dem Philosophen Sokrates den eigentlichen Begründer der Menschenrechte, habe dieser doch in seiner Unterredung mit Kriton unmittelbar vor seinem Tod nicht nur das neuzeitliche Modell der Vertragstheorien vorweggenommen, sondern auch die Ausreise-, Informations- und Meinungsfreiheit eingefordert.(8) Indessen kannte die Antike Menschenrechte im modernen Sinne – also als unantastbare Grundrechte für alle Menschen – nicht. Gleichwohl entstanden bereits zu jener Zeit zu ihnen gehörende Auffassungen wie etwa die von der allgemeinen Gleichheit, dem Kosmopolitismus und der Menschenwürde.

Allerdings handelte es sich dabei weder um ethisch noch politisch dominierende Wertvorstellungen. Indessen wurde die diskriminierende gesellschaftliche Praxis der Griechen den Barbaren, Frauen und Sklaven gegenüber bereits von den Sophisten als naturfremd angesehen und von ihnen für deren Anerkennung als gleichwertige Menschen plädiert. Bereits im 5. Jahrhundert äußerte Antiphon, von Natur aus seien alle gleich, atmeten doch alle durch Mund und Nase und essen mit den Händen. Und im 4. Jahrhundert formulierte Alkidamas, Gott habe alle Menschen frei geschaffen und die Natur keinen zum Sklaven bestimmt. Dem gegenüber herrschte allerdings ein durch die Ablehnung der Gleichheit und die Bejahung der Sklaverei gekennzeichneter gesellschaftlicher Grundkonsens vor, welcher auch von Platon und Aristoteles akzeptiert wurde. "Die Forderung nach grundsätzlicher Abschaffung der Sklaverei", so der Althistoriker Alexander Demandt, "ist weder von den Sophisten noch von den Stoikern oder den Christen je erhoben worden ...".(9)

Insofern bildeten die Einwände der Sophisten gegen die Sklaverei lediglich ethische Postulate, was auch für den bei vielen Denkern der Antike vertretenen Kosmopolitismus gilt. Er begriff den individuellen Menschen in seiner Wertigkeit an sich und nicht über seine Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe oder sozialen Schicht, womit sich die Vorstellung von der Bedeutung des Individuums ebenso wie von der Abwesenheit der Diskriminierung verband. Alle drei großen philosophischen Schulen, die Kyniker, die Stoiker und die Epikureer, vertraten diese Idee eines Weltbürgertums. Danach sollten die Schranken zwischen den Menschen beseitigt werden, gehörten doch von Natur aus alle Menschen zueinander. Man erhoffte sich einen Weltbürgerstaat, indem alle Menschen Brüder wären. Allerdings entwickelten die wichtigsten Protagonisten dieser philosophischen Schulen, Diogenes, Zenon und Epikur, aus dieser Auffassung heraus allenfalls utopische Entwürfe, aber keine Vorstellungen, die in Reformvorschlägen zur Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung mündeten.(10)

Menschliche Würde betrachtete man in der Antike überwiegend nicht als dem Menschen angeborenes Wesensmerkmal, sondern als Ergebnis von Leistungen und Verdiensten, welche aufgrund ihres gesellschaftlichen Status verständlicherweise nicht allen Menschen möglich waren. Gegen diese vorherrschende Auffassung von Menschenwürde postulierte die Naturrechtsauffassung der Philosophie der Stoa die Wesenswürde, ging man doch davon aus, daß alle Menschen Anteil an der Weltvernunft hätten, demgemäß Glieder derselben Welt seien und ihnen allen eine besondere Würde zukäme.(11) In diesem Sinne äußerte sich etwa dezidiert Cicero, wenn er von einer in der menschlichen Natur liegenden, allen Individuen gemeinsamen Erhabenheit und Würde sprach und diese Besonderheit mit dem Hinweis auf die im Unterschied zu den Tieren bestehende Fähigkeit zum Denken und zur Willensbildung erläuterte.(12) In dieser Grundauffassung ist demnach in der Tat eine theoretische Vorstufe des modernen Menschenrechtsverständnisses zu sehen.

Viele der vorgenannten Auffassungen flossen auch in das römische Recht, wozu insbesondere die aus dem natürlichen Recht abgeleitete allgemeine Freiheit und Gleichheit der Menschen gehört. Insofern läßt sich bereits für die Zeit der Antike ansatzweise ein philosophisch begründetes Menschenrechtsrechtsverständnis im modernen Sinne und dessen teilweise konstitutionelle Verankerung feststellen. Von daher ist es auch unverständlich, warum der in diesen Fragen keineswegs apologetisch-einseitig argumentierende, bereits erwähnte Hans Maier hinsichtlich der Wurzeln der Menschenrechte davon spricht, daß die Idee der Einheit des Menschengeschlechts zuerst in der Theologie des frühen Christentums hervorgetreten sei und solche Gedanken weder von den Griechen noch den Römern entwickelt worden wären.(13) Allein schon vor dem Hintergrund der beschriebenen antiken Grundlagen des modernen Menschenrechtsverständnisses muß der Auffassung, wonach hier das Christentum die originäre Basis geschaffen hätte, widersprochen werden.

Ähnlichkeit mit und Gleichheit vor Gott

Diese Feststellung gilt auch und gerade gegenüber der These, wonach die geistigen Grundlagen der Menschenrechte in der Stoa und im Christentum zu sehen seien. Selbst wenn man diese Auffassung inhaltlich teilt, darf die historische Chronologie nicht ignoriert werden, bildete sich doch die Stoa früher als das Christentum heraus und könnte von daher auch eher den Anspruch auf eine originäre Wirkung erheben. Ähnlich verhält es sich mit den als christliche Grundlagen der Menschenrechte häufig genannten angeblichen Besonderheiten dieser Religionsform, wie der Auffassung, daß alle Menschen vor Gott gleich sind. "Aber so sehr diese Auffassung auf das Neue Testament zurückgeht", so der Philosoph Franz Josef Wetz, "sie ist sehr viel älter als die christliche Lehre."(14) Unabhängig von diesem historischen Tatbestand ist darüber hinaus zu fragen, inwieweit diese Auffassung vom inhaltlichen Bedeutungsgehalt her als Grundlage für das moderne Menschenrechtsverständnis angesehen werden kann.

Eine Prüfung dieser Frage setzt die Vergewisserung darüber voraus, in welchem Kontext die Vorstellung von der Ähnlichkeit mit und der Gleichheit vor Gott formuliert wurde. Der zuerst genannte Aspekt, der theologisch unter dem Begriff der "Gottesebenbildlichkeit" firmiert, geht in der Bibel auf das Buch Genesis zurück, wo es heißt: "Dann sprach Gott: Laßt uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Sie sollen herrschen über die Fische des Meeres, über die Vögel des Himmels, über das Vieh, über die ganze Erde und über alle Kriechtiere auf dem Land. Gott schuf also den Menschen als sein Abbild; als Abbild schuf er ihn" (Genesis 1, 26f.).(15) Hier wird dem Menschen als Lebewesen unabhängig von seinen Handlungen und demnach dauerhaft eine besondere Wertigkeit zugesprochen, einerseits hinsichtlich der Ähnlichkeit mit Gott, andererseits hinsichtlich der Überlegenheit gegenüber der Natur und den Tieren.

Indessen ergibt sich aus diesem Verständnis von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen über die Betonung des exklusiven Status des Menschen keineswegs notwendigerweise eine Aussage hinsichtlich der Bedeutung und des Stellenwertes des Menschen in der realen Gesellschaft. Die Auffassung von der Ähnlichkeit mit Gott bezieht sich auf das Verhältnis des Menschen zu Gott, hat somit eine religiöse Dimension. Es geht hier erkennbar eben nicht um das Verhältnis der Menschen zueinander in der realen Welt. Genau diese Ebene müßte aber eine sich im Sinne des geistigen Ursprungs des modernen Menschenrechtsverständnisses verstehende Auffassung zumindest theoretisch berühren wie dies bereits die Sophisten mit ihrem ethischen Gleichheitspostulat taten. Sie gingen davon aus, daß eine göttliche Instanz die Menschen gleich geschaffen habe. Demgegenüber postuliert die christliche Auffassung von der Gottesebenbildlichkeit nur die religiös bedingte hohe Würde des Menschen.(16)

Ähnlich verhält es sich auch mit der Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott, die ebenfalls häufig als Beleg für eine originäre Bedingtheit der modernen Menschenrechte durch das Christentum vorgebracht wird. Nach dem Brief an die Galater soll sie Paulus auf folgende Formel gebracht haben: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid 'einer' in Christus Jesus" (Galater 3, 28). Hier offenbart sich tatsächlich eine egalitäre und kosmopolitische Einstellung, allerdings erkennbar nur für den religiösen, nicht für den sozialen Kontext. Die Gleichheit der Menschen gilt vor Gott und nicht für die gesellschaftlichen Verhältnisse. Nur so läßt sich auch erklären, warum in dieser Aussage sowohl die Frauen als auch die Sklaven als gleichgestellt, sie im Neuen Testament allgemein aber als hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen Stellung befürwortend oder duldend als diskriminiert beschrieben werden.

Die aus den Auffassungen von der Ähnlichkeit mit und der Gleichheit vor Gott entwickelten Postulate der Freiheit, Gleichheit und Würde des Menschen sollten eben gerade nicht zwingend Gebote für den Stellenwert der Individuen in ihrem realen Leben sein. Es handelt sich um zwei unterschiedliche Ebenen, die religiöse und die gesellschaftliche Sphäre, und die Aussagen zum zuerst genannten Bereich können nicht automatisch auf den letztgenannten Bereich übertragen werden. Darauf weisen indirekt auch die Aussagen des bereits erwähnten Hans Maier hin: "Einmal war der christliche Gedanke der Gleichheit in der Ständegesellschaft allenfalls als pädagogisch-theologisches Korrektiv der faktischen Ungleichheit wirksam, er beeinflußte kaum die realen sozialen Verhältnisse ... Zum anderen aber ruht der Gleichheitsgedanke des modernen Naturrechts, der in den Menschenrechten wirkt, nicht mehr auf der Gleichheit des Menschen vor Gott, sondern wesentlich auf seiner biologischen, kreatürlichen Artgleichheit."(17)

Freiheit und Gleichheit nur in der religiösen Sphäre

Dadurch erklärt sich auch der eben nur scheinbare Widerspruch in Christentum und Kirche zwischen einerseits der originären Bejahung von Freiheit und Gleichheit der Menschen und andererseits des Widerstandes gegen deren politische Umsetzung. Beide Einstellungen können und konnten durchaus widerspruchsfrei nebeneinanderher bestehen, so lange sie sich auf unterschiedliche Ebenen bezogen. Man mag dies für ethisch verwerflich und politisch fatal halten, gleichwohl handelt es sich um eine in sich schlüssige Position. Sie prägte die gesamte Geschichte der christlichen Kirche bis ins 20. Jahrhundert hinein und erklärt auch deren Bejahung oder Duldung der Unterwerfung des Menschen durch unterschiedliche politische Regime. Mit dieser Einstellung läßt sich entsprechend des letzten Zitates aus dem Neuen Testament auch gleichzeitig sowohl die Gleichheit der Sklaven mit anderen Menschen vor Gott behaupten als auch die Aufrechterhaltung der Sklaverei als legitim erklären, wofür es ein anschauliches Beispiel aus dem Neuen Testament gibt.

Nach den dortigen Angaben äußerte Paulus im ersten Brief an die Korinther an die Adresse von sich befreien wollenden Sklaven: "Jeder soll in dem Stand bleiben, in dem ihn der Ruf Gottes getroffen hat. Wenn du als Sklave berufen wurdest, soll dich das nicht bedrücken; auch wenn du frei werden kannst, lebe lieber als Sklave weiter. Denn wer im Herrn als Sklave berufen wurde, ist Freigelassener des Herrn. Ebenso ist einer der als Freier berufen wurde, Sklave Christi" (1. Korinther, 7, 20-22).

Zunächst fällt hier auf, daß die Sklaverei nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich bejaht wird. Dies geschieht noch nicht einmal aus einer eigenen Interessen- und Nutzenslage, sondern aus der grundsätzlichen Bejahung der bestehenden gesellschaftlichen und politischen Ordnung heraus. Daran wird erkennbar kein besonderer Wertmaßstab hinsichtlich des Verhältnisses von Individuum und Staat angelegt, was bedeutet, daß die unbedingte weltliche Gehorsamsbereitschaft auch Systemen entgegen zu bringen ist, welche die Freiheit, Gleichheit und Würde der Menschen erheblich mißachten und verletzen.

Abgeleitet wurde diese grundsätzliche Einstellung des Gehorsams der Obrigkeit gegenüber aus einem christlichen Menschenbild, das die Individuen prinzipiell als Sünder verstand und daraus deren notwendige Unterwerfung auch unter ungerechte irdische Herrschaft ableitet. Die gleichzeitig diese Religionsform prägende Auffassung von der Allmacht Gottes legitimierte denn auch jegliche weltliche Herrschaft, schien sie doch allein durch ihr Vorhandensein Ausdruck eines göttlichen Willens zu sein. Dieser anschließend noch näher zu beschreibenden Grundeinstellung der Duldung von – modern gesprochen – Menschenrechtsverletzungen in der realen Welt stand die Betonung der Freiheit und Gleichheit in der religiösen Welt gegenüber. Auf sie wurden die Sklaven in dem obigen Zitat tröstend verwiesen, seien dort doch die Schranken zwischen Herrn und Sklaven aufgehoben und beide sowohl Herr als auch Sklave vor Gott. Diese Trennung unterschiedlicher Sphären mit den genannten Konsequenzen prägte auch die Einstellung der wichtigsten Theologen.

Verdeutlicht werden soll dies hier exemplarisch anhand des Reformers Martin Luther(18), der mitunter auch als einer der religiösen und damit geistigen Wegbereiter des modernen Menschenrechtsverständnisses angesehen wird. Anknüpfungspunkte für diese Sichtweise sind zum einen seine Lehre vom Priestertum aller Gläubigen, worin das Gleichheitspostulat zum Ausdruck komme, und zum anderen die Betonung der – so der Titel seiner Schrift – Freiheit eines Christenmenschen, worin sich der menschenrechtliche Freiheits- und Individualitätsgedanke andeute. Eine solche Sichtweise ignoriert aber, daß sich damit verbundene Auffassungen auf den inneren und nicht auf den äußeren Menschen bezogen, d.h., sie galten für die seelischen Empfindungen, nicht für die gesellschaftlichen Umstände. Luther forderte denn auch gar nicht dazu auf, die theologischen Neuerungen in gesellschaftliche Forderungen zu übertragen. Entsprechend schlug er sich in den sozialpolitischen Auseinandersetzungen seiner Zeit auch bewußt auf die Seite der Obrigkeit in Gestalt der Fürsten und nicht auf die Seite der Rechtsforderungen erhebenden rebellischen Bauern.

Diese konkrete Verhaltensweise ergibt sich als in sich schlüssige Konsequenz aus der von Luther vertretenen und so auch aus dem Neuen Testament ableitbaren Auffassung von der strikten Trennung des Reichs des Glaubens von dem Reich der Welt. Gerade diese Einstellung verbietet entsprechend auch, die Aussagen von der Ebenbildlichkeit mit und der Gleichheit vor Gott von der religiösen und auf die säkulare Ebene zu übertragen und darin einen originären Beitrag zur Herausbildung des modernen Menschenrechtsverständnisses zu sehen. Ein solcher Zusammenhang ergibt sich nur durch eine bewußte Überwindung dieser Trennung, wobei aber grundlegende Prinzipien des christlichen Selbstverständnisses aufgehoben werden würden. Zutreffend bemerkte denn auch Hans Maier, für die Herausbildung des modernen Menschenrechtsverständnisses sei entscheidend gewesen, "daß die Aufklärung das Konzept Menschheit aus seiner christlichen Verankerung löste ... – daß also der Begriff des Menschen über den des Christen siegte."(19)

Christliches versus menschenrechtliches Menschenbild

Der geistige Schritt vom religiösen Freiheitsverständnis des Christen zum politischen Freiheitsverständnis des Menschen wurde denn auch erst im Zusammenhang mit dem Aufkommen der Aufklärung konsequent vollzogen. Deutlich wird dies exemplarisch anhand des als einer der philosophischen Wegbereiter des modernen Menschenrechtsverständnisses geltendem John Locke. Er ging in seinen Zwei Abhandlungen über die Regierung davon aus, daß Gott bzw. die Natur die Menschen frei, gleich und unabhängig geschaffen habe. Diese Annahme begründete der gläubige Christ Locke indessen nicht theologisch, insofern läßt sich in seiner politischen Theorie auch die Herleitung des Menschenbildes von Gott mit der Herleitung von der Natur ohne inhaltliche Konsequenzen austauschen. Er selbst nahm denn auch in seiner Schrift häufig genug einen solchen Wechsel vor(20), woraus sich ergibt, daß dieses Menschenrechtsverständnis auch bei Locke säkular-naturrechtlich begründbar war.

Denn strenggenommen besteht entsprechend der vorstehenden und der folgenden Ausführungen ein grundsätzlicher Gegensatz von dem traditionellen christlichen und dem modernen menschenrechtlichen Menschenbild. Letzteres geht davon aus, daß das Individuum durch sein Menschsein einen Anspruch auf die Menschenrechte und die damit verbundene Freiheit, Gleichheit, Unabhängigkeit und Würde hat. Dem gegenüber betrachtet die christliche Religion den Menschen aus dem Blickwinckel der Lehre von der Erbsünde, die davon ausgeht, daß der Adam von Gott scheidende Sündenfall im Paradies von Generation zu Generation weitergegeben auf dem ganzen Menschengeschlecht laste. Entsprechend heißt es auch in dem Paulus zugeschriebenen Brief an die Römer: "Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit Gottes verloren. Ohne es verdient zu haben, werden sie gerecht, dank seiner Gnade durch die Erlösung in Christus Jesus" (Römer 3, 23f.).

Diese Auffassung sieht das Individuum einerseits als grundsätzlich von der Sünde geprägt und andererseits als von der Gnade abhängig an. Letztere wird ermöglicht durch göttliches Wohlwollen, nicht durch individuelles Verhalten, heißt es doch im Paulus zugeschriebenen Brief an Titus: Er hat "uns gerettet – nicht weil wir Werke vollbracht hätten, die uns gerecht machen können, sondern aufgrund seines Erbarmens ..." (Titus, 3, 5). Diese Auffassung denkt den Menschen nicht als souveränes Individuum, das die Wahrnehmung von Rechten beanspruchen kann, sondern als passives und unterwürfiges Objekt für göttliche Gnadenerweise(21). Bis in die Neuzeit hinein, so denn auch der bereits erwähnte Moraltheologe Johannes Gründel, wurde die Entwicklung einer eigenständigen christlichen Konzeption von der Würde und von den Rechten des Menschen gestört durch die kirchliche Erbsündenlehre, die von der Auffassung ausging, der Mensch habe durch seine Sünde alle Rechte vor Gott verwirkt und besäße darum keine eigene Würde, die ihn der kirchlichen und weltlichen Gewalt entziehe.(22)

Daher zogen auch wichtige Kirchenlehrer daraus die Konsequenz, das Individuum habe sich grundsätzlich der weltlichen Obrigkeit zu unterwerfen. Da der Mensch sündig sei, so Augustinus in Vom Gottesstaat, müsse er sich der irdischen Herrschaft beugen, auch wenn sie vom Bösen ausgeübt werde.(23) Und Thomas von Aquin schloß aus der Lehre von der Erbsünde, da der Mensch dadurch belastet und böse sei, müsse er auch von ihm nicht akzeptierte Herrschaft bis hin zur Sklaverei erdulden.(24) Die hier zum Ausdruck kommende prinzipielle Unterordnung unter eine Herrschaft, unabhängig von ihrer inhaltlichen Legitimation und politischen Praxis konnte sich dabei durchaus auf die diesbezüglichen Vorgaben aus dem Neuen Testament stützen. So heißt es etwa in dem Paulus zugeschriebenen Brief an die Römer: "Jeder leiste den Trägern der staatlichen Gewalt den schuldigen Gehorsam. Denn es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott stammt; jede ist von Gott eingesetzt" (Römer 12, 1f.).

Neben der Rechtfertigung der prinzipiellen Unterordnung des Individuums unter jede Obrigkeit aus der Lehre von der Erbsünde ergab sich diese Forderung auch aus der Auffassung, wonach jede Herrschaft von Gott eingesetzt sei. Damit wird auch jeglichem Handeln gegen sie, etwa im Falle von Menschenrechtsverletzungen, die christliche Legitimation abgesprochen, heißt es doch weiter: "Wer sich daher der staatlichen Gewalt widersetzt, stellt sich gegen die Ordnung Gottes, und wer sich ihm entgegenstellt, wird dem Gericht verfallen" (Römer 12, 3). Ähnlich äußerte sich Petrus in einem ihm zugeschriebenen Brief: "Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Ehrfurcht euren Herren unter, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften. Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet (1. Petrus, 2, 18 f.). Es bedarf hier wohl keiner weiteren Ausführungen, um anhand solcher Zitate den grundlegenden Gegensatz von christlichem und menschenrechtlichem Menschenbild zu verdeutlichen.

Kirchliches Engagement gegen die Menschenrechte

Entsprechend dieser grundsätzlichen Bejahung jeglicher politischer Obrigkeit aufgrund ihrer schlichten Existenz verwundert auch nicht die in der historischen Rückschau immer wieder feststellbare Funktion dieser Religionsform zur Legitimation von Herrschaft – auch und gerade von diktatorischen Regimen. Das Christentum rechtfertigte so einerseits Diskriminierung und Unterdrückung in der gesellschaftlichen Sphäre und bot andererseits den Beherrschten Vertröstung und Würde für die religiöse Sphäre. Insofern muß für die Zeit seit der Erklärung zur Staatsreligion bis ins 20. Jahrhundert hinein auch konstatiert werden, daß sich das moderne Menschenrechtsverständnis in Theorie und Praxis nicht im Einklang mit dem Wirken der Institutionalisierung dieser Religionsform, der Kirche, sondern nur im erklärten Gegensatz zu ihr durchsetzen konnte. Diese bilanzierende Einschätzung schließt verständlicherweise nicht gewisse Ausnahmen aus, gleichwohl dominiert die skizzierte Grundhaltung in der geschichtlichen Gesamtbetrachtung.

Ansätze zu einer entsprechenden Einstellung und Praxis fanden sich bereits im Neuen Testament selbst, welches keineswegs nur als humanitär geltende Einstellungen der Feindes- und Nächstenliebe beinhaltet. Viele Strukturmerkmale der dort begründeten Religionsform stehen nämlich in einem objektiven Spannungsverhältnis zu den Grundlagen und der Philosophie des modernen Menschenrechtsverständnisses und wurden denn auch in der Geschichte der Kirche häufig genug zur Legitimation der Verletzung von Menschenrechten genutzt. Hierzu gehören der Absolutheitsanspruch und Dogmatismus, der sich etwa in Einstellungen wie den folgenden Jesus zugeschriebenen Aussagen manifestiert: "Ich bin das Brot des Lebens" (Johannes 6, 48); "... Ich bin die Auferstehung und das Leben ..." (Johannes 11, 25); "... Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben ..." (Johannes 14, 6) oder "Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage" (Johannes 15, 14).

Gleiches gilt für die Intoleranz und Verdammungsurteile gegenüber Andersdenkenden und -gläubigen, die sich in folgenden ebenfalls Jesus zugeschriebenen Äußerungen artikuliert: "Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden" (Markus 16, 16) oder "Wer nicht in mir bleibt, wird wie die Rebe weggeworfen, und er verdorrt. Man sammelt die Reben, wirft sie ins Feuer, und sie verbrennen" (Johannes 15, 6). Auch Paulus verdammte nach den Angaben der Bibel in mehreren Briefen konkurrierende Deutungen der christlichen Lehre wie etwa mit folgenden Worten "... Wer euch ein anderes Evangelium verkündigt, als ihr angenommen habt, der sei verflucht" (Galater 1, 9). Auf die Aussagen im Neuen Testament nicht nur zur Duldung, sondern zur Rechtfertigung der Sklaverei wurde ebenso bereits hingewiesen wie auf die Forderung zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber jeder Obrigkeit.

Aus damit verbundenen Grundeinstellungen heraus legitimierten oder forderten gar selbst die christlichen Kirchen die Verletzung der Menschenrechte in der politischen Praxis von Jahrhunderten. Eine ausführlichere Darstellung würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, es sei lediglich in Stichworten verwiesen auf die Unterstützung der Sklaverei, die Verfolgung der Heiden, die Diskriminierung der Juden, die Praxis der Inquisition, die Verfolgung anderer Christen, die Rechtfertigung der Kolonialisierung sowie die Unterstützung von Diktaturen. So einseitig es im Sinne einer historischen Gesamtschau sein mag, die Geschichte der Kirche auf eine Kriminalgeschichte zu reduzieren, so darf doch auch nicht ignoriert werden, daß sie zwar nicht allein, aber ebenso eine solche war.(25) Insofern erklärt sich auch die Distanz der Kirchen den Menschenrechten gegenüber, sprechen doch auch die bereits erwähnten Theologen Huber und Tödt für die katholische Doktrin von der lange bestehenden "Ablehnung der Menschenrechte" und gegenüber dem Protestantismus von einer "traditionellen Distanz".(26)

Eine solche Einstellung bestand auch im 19. Jahrhundert, also noch zu einer Zeit als das moderne Menschenrechtsverständnis auf säkularer Grundlage bereits inhaltlich entwickelt war. Denn die Stellungnahmen der Päpste, so selbst eine Studie der päpstlichen Kommission Justita et Pax, waren gegenüber den Menschenrechten von "Vorsicht und Ablehnung, ja manchmal sogar von offener Feindschaft und Verurteilung"(27) gekennzeichnet. Man verwahrte sich gegen eine als auflösend und zersetzend empfundene Religionsfreiheit, verwarf das Recht, alle Meinungen in Druckschriften zu veröffentlichen, und wandte sich gegen ein Übertragen der Vorstellung von "christlicher Demokratie" auf die politische Sphäre. Erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts läßt sich ein Wandel in dieser Grundeinstellung zugunsten der Akzeptanz der Menschenrechte feststellen, womit die christlichen Kirchen Anschluß an das moderne Menschenrechtsverständnis fanden. Noch einmal Hans Maier: Sie "mußten diesen Vorsprung erst mühsam, in zahlreichen Anpassungen und Rezeptionen wieder einholen."(28)

Abschließende und zusammenfassende Einschätzung

Die vorstehenden kritischen Ausführungen zum Zusammenhang von Christentum und Menschenrechten dürfen keinesfalls als ahistorisch angesehen werden, etwa in dem Sinne, daß mit heutigen bzw. modernen Maßstäben Entwicklungen in der Vergangenheit beurteilt werden sollen.(29) Eine solche Ansicht vertreten indessen die Anhänger der Auffassung, daß sich das moderne Menschenrechtsverständnis originär aus der christlichen Religion ableiten ließe und vor dem Hintergrund dieses von der kritisierten Seite vertretenen Maßstabes erfolgten auch die obigen Ausführungen. Hinzu kommt, daß sehr wohl eine historische Betrachtungsweise gewählt wurde, was sich gerade an der vergleichenden Betrachtung zu den Grundlagen des Menschenrechtsverständnisses in der heidnischen Antike zeigte. Sie belegt aber auch, daß für diesen geschichtlichen Kontext noch nicht von einem entwickelten Menschenrechtsverständnis im gegenwärtigen Sinne gesprochen werden kann.

Jedoch verdeutlichte die Darstellung, daß eben diese Auffassungen in vor-christlicher Zeit aus der Sicht der Gegenwart weiter gediehen waren als in Christentum und Kirche bis in die Mitte des zweiten Jahrtausends hinein. Anders formuliert: Für letztere läßt sich in der historischen Betrachtung sogar ein Rückfall hinter einen in der heidnischen Antike erreichten Stand feststellen. Auch vor diesem Hintergrund ist die Auffassung von den originären Ursprüngen des modernen Menschenrechtsverständnisses in christlichen Religionsvorstellungen nicht haltbar. Sie wurde und wird in den diesbezüglichen Darstellungen aus den Vorstellungen von der Ebenbildlichkeit mit und der Gleichheit vor Gott abgeleitet, wobei ignoriert wird, daß Aussagen zur religiösen nicht direkt auf die weltliche Sphäre übertragen werden können. Eine solche Sichtweise widerspricht auch elementar der christlichen Auffassung von einer diesbezüglichen Trennung der beiden Bereiche bzw. Welten.

Erst durch das von der säkularen Aufklärung ausgehende Durchbrechen dieser Abgrenzung zum einen und dem politischen Sieg der demokratischen Verfassungsstaaten zum anderen konnte es überhaupt dazu kommen, daß sich die Institutionen des Christentums, die Kirchen, positiv auf das moderne Menschenrechtsverständnis bezogen. Gleiches gilt für andere Religionen, welche als primär an Pflichten und weniger an Rechten orientiert ein Spannungsverhältnis zu den Menschenrechten aufweisen. Gerade der Islam wäre hier vorrangig zu nennen.(30) Erst durch die Einflüsse von Aufklärung, Demokratisierung und Säkularisierung entsprechender Gesellschaftssysteme dürfte es auch in solchen Fällen zu einer Annäherung an das moderne Menschenrechtsverständnis kommen.

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Anmerkungen:

(1) Johannes Gründel: Christliche Moral und Menschenrechte. In: Die Menschenrechte. Herkunft - Geltung - Gefährdung, hg. von Walter Odersky, Düsseldorf 1994, S.90-118, hier S.99 und 98.

(2) Hans Maier: Christentum und Menschenrechte. Historische Umrisse. In: Die Menschenrechte, S.49-64; hier S.49.

(3) Wolfgang Huber u. Heinz Eduard Tödt: Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt. München 1988, S.62.

(4) So waren etwa wichtige Unterzeichner der das Bekenntnis zur Gleichheit der Menschen enthaltenen amerikanischen Unabhägigkeitserklärung selbst Sklavenhalter (z.B. Thomas Jefferson, George Mason und George Washington).

(5) Vgl. zur Philosophie der Menschenrechte u.a. Heiner Bielefeldt: Philosophie der Menschenrechte. Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos. Darmstadt 1998. – Philosophie der Menschenrechte. Hg. von Stefan Gosepath u. Georg Lohmann. Frankfurt a.M. 1998.

(6) Vgl. zur Geschichte der Menschenrechte u.a. Ludgar Kühnhardt: Die Universalität der Menschenrechte. Bonn 1987, S.17-104. – Gerhard Oestreich: Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß. Berlin 1968.

(7) Vgl. Hubert Cancik: Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte. In: "Vor Gott sind alle gleich". Soziale Gleichheit, soziale Ungleichheit und die Religionen. Hg. von Günter Kehrer, Düsseldorf 1983, S.190-211.

(8) Vgl. Klaus Adomeit: Antike Denker über den Staat. Eine Einführung in die politische Philosophie. Hamburg u. Heidelberg 1982, S.49-55.

(9) Alexander Demandt: Der Idealstaat. Die politischen Theorien der Antike. Köln, Weimar u. Wien 1993, S.51; zum Vorstehenden vgl. S.50f.

(10) Vgl. Demandt: Der Idealstaat, S.168-173.

(11) Vgl. Franz Josef Wetz: Die Würde der Menschen ist antastbar. Eine Provokation. Stuttgart 1998, S.16-28.

(12) Vgl. Marcus Tullius Cicero: Vom rechten Handeln. Zürich 1964, I, 14, 106f. und 130f.

(13) Vgl. Maier: Christentum, S.62.

(14) Wetz: Die Würde, S.24.

(15) Alle Bibelzitate nach der folgenden Ausgabe: Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg 1993.

(16) Auch der Rechts- und Sozialphilosoph Norbert Brieskorn bemerkt: "Die Auffassung von der Gottähnlichkeit des Menschen, wie sie sich aus den jüdisch-christlichen Quellen erheben läßt, steht ... in erheblicher Unvereinbarkeit mit dem Menschenbild, wie es sich in der Menschenrechtsbewegung Frankreichs des 18. Jhdts. und später findet ...". Vgl. Norbert Brieskorn: Menschenrechte. Eine historisch-philosophische Grundlegung. Stuttgart 1997, S.146.

(17) Hans Maier: Wie universal sind die Menschenrechte? Freiburg 1997, S.82f.

(18) Vgl. Martin Luther: Von der Freiheit des Christenmenschen. Von weltlicher Obrigkeit – Serman von den guten Werken. Gütersloh 1995. Vgl. zum Thema auch Andreas Großmann: Reformatorisches und neuzeitliches Freiheitsverständnis – in unversöhnlichem Streit oder versöhnlich mitten im Streit? In: Dimensionen menschlicher Freiheit. Johannes Schwartländer zum 65. Geburtstag. Hg. von Heiner Bielefeldt, Winfried Brugger u. Klaus Dicke, Tübingen 1988, S.215-228. – Herbert Marcuse: Studie über Autorität und Familie. In: Herbert Marcuse: Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a.M. 1969, S.55-156, hier S.59-68.

(19) Maier: Wie universal sind die Menschenrechte, S.75.

(20) Vgl. z.B. John Locke: Zwei Abhandlungen über die Regierung. Frankfurt a.M. 1977, II § 77, und II § 95.

(21) Der atheistische Philosoph Joachim Kahl dazu: "Wer die Menschen als wesenhaft auf Gnade angewiesen denkt, denkt sie als rechtlos." Vgl. Joachim Kahl: Das Elend des Christentums. Reinbek 1993, S.31.

(22) Vgl. Gründel: Christliche Moral, S.107.

(23) Vgl. Augustinus: Vom Gottesstaat. Zürich 1955, XIX. Buch, S.562.

(24) Vgl. Thomas von Aquin: Summe der Theologie. Heidelberg-Graz 1934, 96. Frage, Art. 4.

(25) Vgl. die sechs Bände von Karlheinz Deschner: Kriminalgeschichte des Christentums. Bd. 1: Die Frühzeit. Reinbek 1986. – Bd. 2: Die Spätantike. Reinbek 1988. – Bd. 3: Die alte Kirche. Reinbek 1990. – Bd. 4: Frühmittelalter. Reinbek 1994. – Bd. 5: 9. und 10. Jahrhundert. Reinbek 1997. – Bd. 6: Das 11 und 12. Jahrhundert. Reinbek 1999.

(26) Vgl. Huber u. Tödt, Menschenrechte, S.40 und 45.

(27) Die Kirche und die Menschenrechte. Hg. von der Päpstlichen Kommission "Justitia et Pax". Mainz 1976, S.8.

(28) Maier. Wie universal sind die Menschenrechte, S.76; vgl. zum Vorstehenden auch S.52-77.

(29) Insofern wäre auch nicht der Vorwurf der Duldung der Sklaverei an das Christentum und die Kirchen für das erste Jahrtausend zu erheben, bestand diesbezüglich doch ein breiter und dominierender gesellschaftlicher Konsens. Dem gegenüber war die philosophische Begründung des Postulats von der menschlichen Gleichheit und der Widernatürlichkeit der Sklaverei aber bereits in der heidnischen Antike entwickelt worden. An diese Auffassungen knüpften die christlichen Religionsvorstellungen nicht an, ganz im Gegenteil, sie rechtfertigten sogar die Sklaverei.

(30) Vgl. Bassam Tibi: Im Schatten Allahs. Der Islam und die Menschenrechte. München 1994.



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