Univ.-Prof. Dr. Norbert Hoerster (Mainz)

MORALBEGRÜNDUNG OHNE METAPHYSIK *

Eine Frage, die seit je im Zentrum der abendländischen Moralphilosophie gestanden hat, ist die Frage nach der objektiven Begründbarkeit moralischer Normen: Sind moralische Normen dem Menschen in einer objektiven Realität vorgegeben und somit prinzipiell erkennbar? Sind moralische Normierungen, Sollensaussagen, nicht anders als irgendwelche Seinsaussagen grundsätzlich wahrheitsfähig?

Dies ist eine Frage ontologisch-erkenntnistheoretischer Natur. Die Antwort auf sie ist bis heute äußerst umstritten. Denker wie Platon, Aristoteles, Thomas von Aquin, Kant haben sie – auf freilich sehr unterschiedliche Art – positiv, Denker wie Epikur, Hobbes, Hume, Max Weber negativ beantwortet. Angenommen, eine positive Antwort wäre gerechtfertigt; was wären die Konsequenzen? Es wäre prinzipiell möglich, die richtige Moral im Wege der Erkenntnis zu entdecken und ihre Normen den Menschen als objektiv gültige Sollensgebote vor Augen zu führen. Wäre damit aber das Problem einer Moralbegründung in vollem Umfang gelöst? Diese Frage möchte ich aus den folgenden Gründen verneinen.

Wenn es prinzipiell erkennbare moralische Wahrheiten gibt, so dürfte das zwar heißen, daß sich auch eine intersubjektiv gültige Methode zur Auffindung dieser moralischen Wahrheiten angeben läßt. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Menschen bei ihrer moralischen Urteilsbildung diese eine gültige Methode auch befolgen werden. Und es bedeutet noch weniger, daß die Betreffenden – sei es in Befolgung ihrer abweichenden Methoden oder sei es in Befolgung der gültigen Methode – auch zu denselben moralischen Resultaten gelangen werden. Doch sogar wenn es der Fall sein sollte, daß alle Menschen dieselben moralischen Normen zu erkennen glauben (bzw., falls es moralische Erkenntnis wirklich gibt, tatsächlich erkennen), so ist damit die Möglichkeit von zwischenmenschlichen Konflikten im moralischen Handeln noch keineswegs ausgeräumt. Denn es ist damit zu rechnen, daß zumindest einige Menschen nicht immer hinreichend motiviert sind, das als richtig Erkannte auch in die Praxis umzusetzen. Selbst dann, wenn die Erkenntnis objektiv gültiger Normen per se eine gewisse handlungsmotivierende Kraft entfalten sollte (was keineswegs als selbstverständlich gelten kann), läßt sich nie ausschließen, daß diese Motivationskraft des moralisch Richtigen bei diesem oder jenem Menschen, mehr oder weniger häufig – durch konkurrierende Motive anderer (etwa egoistischer) Art verdrängt oder doch überspielt wird.

Mit anderen Worten: Selbst unter der Voraussetzung der Möglichkeit moralischer Erkenntnis läßt sich nicht ausschließen, daß es mannigfache moralische Handlungskonflikte gibt. Etwas anderes würde nur dann gelten, wenn 1. die prinzipielle Erkenntnismöglichkeit des moralisch Gesollten tatsächlich zu einem lückenlosen moralischen Konsens führen würde und wenn 2. die als richtig erkannten Normen in jedem Fall – allen entgegenstehenden Motivationen zum Trotz ein diesen Normen gemäßes Handeln zur Folge haben würden. Es bedarf kaum einer Begründung, daß diese beiden Voraussetzungen bis zum heutigen Tage in der Realität nie erfüllt waren. Und zwar trifft das zu, obschon seit mehr als zweitausend Jahren objektivistische Normenbegründungsmodelle von den fähigsten Philosophen und Theologen entwickelt worden sind und obschon – das darf man vermuten – eine irgendwie objektivistische Normauffassung ganz allgemein unter den Menschen jedenfalls unseres Kulturkreises die vorherrschende ist.

Was folgt aus alledem für das Problem der Moralbegründung? In einem gewissen Sinn von "begründen" läßt sich natürlich Moral begründen, sofern es nur moralische Erkenntnis gibt: Es ist prinzipiell möglich, gewisse moralische Normen als die objektiv richtigen zu erweisen. Daß es weiterhin moralische Handlungskonflikte gibt, ist für die Möglichkeit einer so verstandenen Begründung ebenso unschädlich, wie wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten (einschließlich ihrer möglicherweise praktischen Konsequenzen) unschädlich für die prinzipielle Begründbarkeit und Wahrheitsfähigkeit von Sätzen der Wissenschaft sind. Es gibt jedoch im Bereich menschlichen Handelns – und Moral hat immer auch mit menschlichem Handeln zu tun – noch einen anderen Sinn von "begründen". Ihn möchte ich im folgenden verdeutlichen. Außerdem möchte ich zeigen, daß sich wenigstens einige moralische Normen ganz unabhängig von ihrer objektiven Erkennbarkeit in diesem hier gemeinten Sinne für jedermann begründen lassen und daß diese Begründungsweise einer objektivistischen Begründungsweise unter praktischen Gesichtspunkten vorzuziehen ist.

Wir würden normalerweise, ohne zu zögern, sagen, daß eine Handlung h für eine Person P begründet ist, sofern h erforderlich ist, ein Ziel z herbeizuführen, welches P hat. (Die mögliche Komplikation, daß P noch andere Ziele als z haben könnte, die durch h gerade vereitelt werden, mag außer Betracht bleiben.) So würden wir etwa sagen, daß es für jemanden, der überleben möchte, begründet ist (einen guten Grund dafür gibt), Nahrung aufzunehmen. Das Prinzip, das dieser Bedeutung von "Begründung" zugrundeliegt, ist natürlich nichts anderes als der von Kant so genannte "hypothetische Imperativ". Auch ohne auf Probleme der exakten Formulierung und des präzisen erkenntnistheoretischen Status dieses Imperativs einzugehen, wird man sagen dürfen, daß es sich hier um ein fundamentales Prinzip der praktischen Vernunft handelt, das von allen im Besitze halbwegs ausgebildeter geistiger Fähigkeiten befindlichen Menschen jedenfalls de facto, implizit anerkannt wird.

Die Handlung h, die in diesem Sinne für P begründet ist, kann sehr unterschiedlicher Art sein: sie kann etwa auch in der Einflußnahme des P auf seine Mitmenschen bestehen. So wird es für P, falls er überleben möchte, vermutlich nicht ausreichen, Nahrung aufzunehmen. Er wird vielmehr etwa auch dafür sorgen müssen, daß seine Mitmenschen ihn nicht umbringen. Wie kann er dies erreichen? Wenn P kein Übermensch ist, der alle seine Mitmenschen an geistigen und körperlichen Fähigkeiten (an "Macht") so sehr überragt, daß er jeden möglichen Angriff auf sein Leben ad hoc wirksam abwehren kann, so scheint der einzige Weg darin zu bestehen, daß P an seine Mitmenschen ein- für allemal ein Tötungsverbot erläßt mit dem Inhalt "Es ist verboten, P umzubringen". Ja, es genügt offenbar nicht, daß P ein solches Verbot erläßt (ausspricht). Es muß P vielmehr gelingen, daß seine Mitmenschen dieses Gebot als für sich verbindlich akzeptieren, daß es unter ihnen wirksam wird.

Damit sind wir bereits bei meinem Versuch einer metaphysikfreien Moralbegründung angelangt, den ich am Beispiel der Begründung des allgemeinen Tötungsverbots exemplifizieren möchte: P, so hatten wir angenommen, ist an seinem Überleben interessiert und hat deshalb guten Grund, sich für die soziale Ingeltungsetzung, für die Institutionalisierung einer Norm einzusetzen, die lautet "Es ist verboten, P zu töten". Unser Ausgangspunkt ist also, daß für ein einzelnes Individuum eine Norm (genauer: die Ingeltungsetzung einer Norm) begründet ist, die das Töten dieses Individuums verbietet. Von diesem Ausgangspunkt aus möchte ich nun zeigen, daß für alle Individuen eine Norm begründet ist, die das Töten aller Individuen (im Sinne von: das Töten jedes beliebigen Individuums) verbietet. Falls sich das wirklich zeigen läßt, so würde es sich dabei durchaus um ein lohnendes Resultat moralphilosophischer Reflexion handeln: Zwar wäre nicht gezeigt worden, daß ein dem Menschen objektiv vorgegebenes und von ihm als solches erkennbares allgemeines Tötungsverbot existiert; aber es wäre gezeigt worden, daß die Institutionalisierung eines allgemeinen Tötungsverbots in einem gewissen Sinne intersubjektiv begründet ist.

Wie sieht mein Argument im einzelnen aus? Zunächst benötigen wir die zusätzliche Prämisse, daß nicht nur P, sondern praktisch jeder Mensch an seinem Überleben interessiert ist. Doch diese Prämisse reicht für mein Vorhaben nicht aus: Es wäre ein logischer Fehlschluß, aus dem hypothetischen Imperativ in Verbindung mit der einzigen zusätzlichen Prämisse "Jeder will überleben" zu folgern ‚Für jeden ist die Norm begründet "Man darf niemand töten"‘. Alles, was wir soweit ableiten können, ist "Für jeden ist die Norm begründet ‚Man darf ihn nicht töten"‘. Mit anderen Worten, für P ist die Norm begründet, daß man P nicht töten darf, für Q ist die Norm begründet, daß man Q nicht töten darf, usw. Das bedeutet aber keineswegs, daß etwa auch für P die Norm begründet wäre, daß man Q nicht töten darf. Und es bedeutet damit erst recht nicht, daß für P die Norm begründet wäre, daß man niemanden töten darf. Was aber insoweit für P gilt, gilt für jedes andere Individuum auch: Wir haben also bisher keineswegs zeigen können, daß ein allgemeines Tötungsverbot für jedermann begründet ist.

Um die gewünschte Ableitung durchführen zu können, benötigen wir vielmehr zwei weitere Prämissen: l. Jeder hat ein größeres Interesse am eigenen Überleben als am (gelegentlichen) Töten. 2. Jeder kann sein Überlebensinteresse in der Gesellschaft dadurch und nur dadurch sichern, daß er auf sein (ihm geringerwertiges) Tötungsinteresse verzichtet. Unter Voraussetzung dieser zusätzlichen Prämissen ist es nämlich für P begründet, nicht nur ein auf sich selbst bezogenes Tötungsverbot, sondern ein allgemeines Tötungsverbot zu wollen. Denn Q und R und jeder andere ist zur Respektierung von P’s Leben nur bereit, sofern auch sein eigenes Leben von P und jedem anderen respektiert wird. Und diesen wechselseitigen Respekt des Lebens von jedem durch jeden kann nur ein allgemeines Tötungsverbot sicherstellen. Freilich muß dieses Tötungsverbot, um die gewünschte Sicherheit auch tatsächlich zu bieten, als allgemein akzeptierte Norm in der Gesellschaft verankert und zumindest im großen und ganzen wirksam sein. Der bloße Wunsch nach seiner sozialen Geltung und Wirksamkeit reicht nicht aus.

Die Institutionalisierung eines allgemeinen Tötungsverbots findet unter dieser Voraussetzung ihre intersubjektive Begründung also darin, daß jeder von ihr profitiert. Zwar bringt sie auch einen Nachteil (die erschwerte Realisierung des gelegentlichen Tötungsinteresses); doch wird dieser Nachteil von dem Vorteil, den sie ebenfalls bringt (der weitgehenden Sicherheit des Überlebens), überwogen. Und da der Vorteil ohne den Nachteil nicht zu haben ist, erscheint die Option für ein solches Verbot unter der Voraussetzung der beiden genannten Prämissen in der Tat als ein universaler Anwendungsfall des hypothetischen Imperativs.

Wie steht es nun aber mit der Richtigkeit der beiden eingebrachten Prämissen, die ich bisher einfach vorausgesetzt habe? Zunächst zu Prämisse 1: Jeder hat ein Interesse am eigenen Überleben. und zwar ein größeres Interesse als am gelegentlichen Töten. Auch unabhängig von umfassenden empirischen Untersuchungen lehrt die Lebenserfahrung, daß dieser Satz zwar vielleicht nicht im wörtlichen Sinn für "jeden", aber doch für die allermeisten Menschen zutrifft. Daß Leute etwa bereit sind, in den Krieg zu ziehen, ist nicht notwendig ein Gegenbeweis Denn Kriege dienen ja häufig trotz der Lebensgefahr, die sie mit sich bringen nach dem Selbstverständnis derer, die sie führen, gerade der langfristigen Sicherung des eigenen Lebens. Außerdem ist selbst der Wunsch nach ungehindertem Kriegführen mit der Ablehnung eines ungehinderten Tötens innerhalb der eigenen Gruppe oder Gesellschaft voll vereinbar. Ein wesentlicher Grund zur größeren Bereitschaft der Menschen, ihr Leben in einem internationalen Konflikt aufs Spiel zu setzen, dürfte in der bislang politisch noch nicht gelösten Schwierigkeit liegen, auch auf internationaler Ebene ein allgemeines Tötungsverbot wirksam zu institutionalisieren, d.h. dem, der auf das Töten verzichtet, die allgemeine Gegenseitigkeit dieses Verzichtes zu garantieren.

Trotz alledem wird man zugeben müssen, daß es gelegentlich Fanatiker gibt (auf nationaler wie auf internationaler Ebene), denen das ungehinderte Töten im Dienste irgendeines Ideals wichtiger ist als das Überleben. Solchen Leuten gegenüber ist ein allgemeines Tötungsverbot von meinem Ansatz aus nicht zu begründen. Die intersubjektive Reichweite der Begründetheit dieses Verbotes ist also schon aus diesem Grunde nicht eine im strikten Sinn universale, sondern lediglich eine nahezu universale.

Nun zu Prämisse 2: Jeder kann sein Überlebensinteresse in der Gesellschaft dadurch und nur dadurch sichern, daß er auf sein Tötungsinteresse verzichtet. Diese Prämisse setzt offenbar voraus, daß es keine Individuen gibt, die über ein solches Maß an Macht verfügen, daß sie es nicht nötig haben, sich die Sicherheit ihres Lebens durch einen Tötungsverzicht von ihrer Seite zu erkaufen. Wenn man bedenkt, wie gering die technischen Schwierigkeiten sind, einen Menschen zu töten, so wird man auch diese Prämisse ohne weiteres für die allermeisten Individuen bejahen dürfen. Natürlich verfügen nicht alle Menschen aufgrund natürlicher wie sozialer Gegebenheiten über ein gleiches Maß an Macht. Insofern werden ohne ein allgemein wirksames Tötungsverbot einige vermutlich länger überleben als andere. Doch auch der Stärkste könnte unter diesen Umständen langfristig seines Lebens nicht sicher sein. Selbst derjenige, der es zur Machtfülle eines Diktators gebracht hat, bedarf zur Sicherung seiner Stellung der Loyalität zumindest einiger Mitmenschen und muß sich diese ihre Loyalität durch eine gewisse Rücksichtnahme auf ihre fundamentalen Interessen erkaufen.

Nach alledem komme ich zu dem Schluß, daß die Inkraftsetzung eines allgemein verbindlichen Tötungsverbotes (im Sinne eines Verbotes beliebigen Tötens) für so gut wie jedermann und damit im weitesten Umfang intersubjektiv begründet ist. Doch es gibt noch eine Reihe weiterer Normen, die sich auf diese Weise begründen lassen. Betrachten wir etwa das Verbot der Lüge. Jeder hat gelegentlich ein Interesse daran, die Unwahrheit zu sagen. Doch größer ist sein Interesse (insbesondere mit Rücksicht auf die Bedeutung zutreffender Informationen für eine rationale Zukunftsplanung), jedenfalls in der Regel von anderen die Wahrheit gesagt zu bekommen. Auch hier beruht die intersubjektive Begründungsmöglichkeit für die Inkraftsetzung eines allgemeinen Lügeverbots also auf einer von jedermann vorgenommenen Interessenabwägung. Als weitere Kandidaten für in diesem Sinne weitestgehend intersubjektiv begründbare Normen wären etwa zu nennen: Garantie des wirtschaftlichen Existenzminimums (das ja, nicht anders als ein generelles Tötungsverbot, eine Voraussetzung des Überlebens ist); Schutz der körperlichen Unversehrtheit und eines zumindest gewissen Maßes an Bewegungs- und Handlungsfreiheit; Schutz des Privateigentums (im Sinne eines ausschließlichen Zugriffs) an Konsumgütern; Sicherstellung der Einhaltung von Versprechen und Verträgen.

Natürlich müßte die Annahme einer intersubjektiven Begründbarkeit für jede dieser Normen sowie für mögliche weitere Kandidaten sorgfältig im einzelnen geprüft werden. Anstatt das jedoch zu tun, möchte ich an dieser Stelle noch einige grundsätzliche Ausführungen zu dem von mir vertretenen Begründungsmodell moralischer Normen machen.

Zentral für dieses Modell ist, wie ich schon ausführte, der Begründungsansatz des sogenannten hypothetischen Imperativs: Wenn jemand ein Ziel z hat, dann ist Handlung h für ihn begründet, sofern h zur Erreichung von z erforderlich ist. Worin besteht nun genaugenommen die von mir als intersubjektiv begründet behauptete Handlung h? Nehmen wir den Fall des Lügeverbots. Handlung h ist hier primär nicht etwa der Verzicht auf die einzelne konkrete Lüge. Denn das von jedermann erstrebte Ziel des Lügeverbots soll ja sein, nicht von anderen belogen zu werden. Ob ich meinerseits bei dieser oder jener Gelegenheit irgend jemanden belüge, ist aber im Normalfall ohne Einfluß darauf, ob ich selbst von irgend jemandem belogen werde. Sprichworte wie "Lügen haben kurze Beine" oder "Ehrlich währt am längsten" gelten nur unter zwei ganz bestimmten Voraussetzungen: 1. daß sie nicht im Sinne einer Maxime für den Einzelfall, sondern im Sinne der Empfehlung einer langfristigen Handlungsstrategie, einer generellen Handlungsnorm verstanden werden und 2. daß der Adressat der in dem Sprichwort enthaltenen Empfehlung, nicht zu lügen, in einer Gruppe oder Gesellschaft lebt, in der eben diese Empfehlung im allgemeinen, d.h. von den meisten Individuen in der Regel auch tatsächlich befolgt wird. Diese zweite Voraussetzung ist besonders wichtig. Denn in einer Gesellschaft, in der allgemein bei jeder Gelegenheit gelogen wird, würde der einzelne keineswegs gut dabei fahren, wenn er allein die Tugend der Ehrlichkeit pflegte. Die vom hypothetischen Imperativ gebotene Handlung geht also, präzis gesprochen, dahin, dafür zu sorgen, daß man selbst und auch alle anderen eine Disposition zur Ehrlichkeit entwickeln. Mit anderen Worten: die Verpflichtung zur Ehrlichkeit muß zu einer allgemein akzeptierten, generell geltenden Norm werden. Das geschieht vor allem dadurch, daß an den Normverstoß der Lüge mannigfache soziale Sanktionen geknüpft werden. Dabei braucht die Vollziehung dieser Sanktionen nicht etwa wiederum durch sozial wirksame Normen gesichert zu werden. Denn sie entspricht normalerweise einem Bedürfnis der durch den Normverstoß geschädigten Individuen.

Erst nachdem es gelungen ist, der betreffenden Norm auf diese Weise in der Gesellschaft Geltung und Wirksamkeit, also weitestgehende Befolgung zu verschaffen (was in unserer Gesellschaft etwa für das Tötungs- und das Lügeverbot zutrifft), kann der einzelne hinreichend sicher sein, seinen eigenen generellen Verzicht auf die betreffenden Handlungen nicht umsonst und damit unbegründet zu leisten. Gäbe es die mit der sozialen Geltung, der Institution des betreffenden Verbotes verbundenen Sanktionen nicht, so bestünde die Gefahr, daß jeder versuchen würde, im Wege des "Trittbrettfahrens" die Institution zur Maximierung seines eigenen Vorteils auszunutzen, und daß als Folge davon die Institution über kurz oder lang zusammenbrechen und somit jeder wieder auf den extrem unerfreulichen Ausgangszustand (jeder tötet und lügt nach Belieben) zurückgeworfen würde. Ich werde auf diesen Punkt der Notwendigkeit von Sanktionen noch zurückkommen.

Hier wird ein wesentlicher Unterschied zwischen meinem zwar auf Intersubjektivität zielenden, aber im Ansatz subjektivistischen Begründungsmodell und einem in irgendeiner Form objektivistischen Begründungsmodell deutlich: Ein objektivistisches Modell kann – einmal vorausgesetzt, daß es tatsächlich moralische Erkenntnis gibt – zwar zeigen, daß bestimmte Handlungen objektiv, unabhängig von den Wünschen und Zielvorstellungen jedes menschlichen Subjektes, gesollt sind. Damit ist jedoch, wie schon eingangs gesagt, die soziale Wirksamkeit dieser Sollensnorrnen noch in keiner Weise sichergestellt. Denn der Weg von der prinzipiellen Erkenntnismöglichkeit des Richtigen über den faktischen Konsens über das Richtige bis hin zur Motivation zur Realisierung des Richtigen ist weit. Das von mir vertretene Begründungsmodell ist demgegenüber dadurch charakterisiert, daß zum einen der von ihm vorausgesetzte hypothetische Imperativ de facto bereits von jedermann als Prinzip vernünftigen Handelns akzeptiert wird und daß zum anderen die mit Hilfe dieses Imperativs begründbare Moral, wie gezeigt, eine von vornherein mit sozialen Sanktionen verknüpfte ist. Wer also an der Begründung einer Art von Moral interessiert ist, die unmittelbar der Vermeidung von zwischenmenschlichen Handlungskonflikten dient, hat insoweit guten Grund, meinem Begründungsmodell vor einem objektivistischen den Vorzug zu geben.

In welchem Verhältnis zueinander stehen nach meinem Begründungsmodell Moral und Egoismus? Wird die Moral nach diesem Modell nicht zu einer bloßen Funktion egoistischer Inreressenbefolgung degradiert und dadurch ins Gegenteil dessen verkehrt, was man gewöhnlich mit ihr verbindet, nämlich die Forderung nach Berücksichtigung der Interessen anderer? Dieser Einwand bedarf einer differenzierten Antwort.

Zunächst ist zu sagen, daß mein Modell keineswegs an die These eines psychologischen Egoismus – also an die These, daß der Mensch von Natur aus unfähig zu altruistischen Motivationen und Handlungen sei – gebunden ist. Allenfalls wird vorausgesetzt, daß nicht jeder Mensch die Interessen jedes anderen Menschen ebenso wichtig nimmt wie seine eigenen Interessen; denn sonst dürften moralische Normen wie die von mir oben genannten weitgehend als überflüssig erscheinen. Diese Voraussetzung aber läßt sieh realistischerweise kaum leugnen. Die faktische Tatsache dagegen, daß zumindest manche Menschen über ein gewisses Maß an Altruismus zumindest im Nahbereich verfügen, ist meiner Form der Moralbegründung eher zuträglich. Denn um auf mein früheres Beispiel der Begründung eines generellen Tötungsverbots zurückzukommen – wer ein Interesse nicht nur am eigenen Überleben, sondern darüber hinaus am Überleben seiner Angehörigen und Freunde hat, hat einen umso stärkeren Grund, auf die Realisierung seiner eigenen gelegentlichen Tötungswünsche gegenüber Dritten zugunsten einer generellen Sicherheit des Überlebens zu verzichten.

Zum zweiten schließt mein Begründungsmodell keineswegs die Behauptung ein, daß es für irgend jemanden etwa unbegründet sei, eine allumfassende Form des Altruismus zu praktizieren oder zu fordern. Wer sich etwa mit dem christlichen Liebesgebot des "Liebe deinen Nächsten (also nach christlichem Verständnis: jeden anderen Menschen) wie dich selbst" ohne Heuchelei glaubt identifizieren zu können, mag das tun. Meine Vermutung, daß sich ein solches allgemeines Liebesgebot kaum in einem sehr weiten Umfang intersubjektiv begründen läßt, soll niemanden daran hindern, dieses Gebot in seine persönliche Moral aufzunehmen und ihm entsprechend zu handeln. Jene wenigen von mir oben angeführten intersubjektiv begründbaren Normen sollen nicht mehr sein als eine "Minimalmoral", als ein Rahmen, innerhalb dessen es jedermann offensteht. seine weitergehenden wie auch seine sonstigen Interessen und Ideale, sofern mit den Forderungen dieser Minimalmoral vereinbar, frei zu verfolgen.

Zwar ist zuzugeben, daß mein Ansatz einer Moralbegründung einem verbreiteten Moralverständnis zuwiderläuft: Während dieses offenbar von objektiv vorgegebenen und letztlich kategorisch gültigen Normen ausgeht, stelle ich auf den Dienst an empirisch erfahrbaren, individuellen Interessen ab. Insofern kann mein Ansatz als ein individual-rationalistischer bezeichnet werden. Trotzdem würde die These, daß dieser Ansatz die Moral, Kantisch gesprochen, auf die Klugheit reduziert, nur in einen eingeschränkten Sinne richtig sein. Gewiß gründet sich meine Minimalmoral insgesamt, als soziale Institution, darauf, daß sie den langfristigen Interessen von jedermann dient. Das schließt aber keineswegs aus, daß sie im konkreten Einzelfall Forderungen stellt, die den Interessen des einzelnen widersprechen. Sie verlangt nämlich etwa von ihm, auch dann nicht zu lügen oder zu töten, wenn eine Lüge oder eine Tötung im konkreten Fall für ihn von Vorteil wäre. Man könnte auf den Gedanken kommen, daß diesem Verlangen etwas Widersprüchliches, ja Utopisches anhafte: Wie kann ein Ansatz, der lediglich auf individuelle Interessen abstellt, plausibel machen, daß der einzelne nicht immer dann, wenn es seinen Interessen dient, die allgemein akzeptierte Norm seinerseits brechen darf? Es ist wichtig zu sehen, warum dieser Einwand nicht schlüssig ist.

Ich hatte schon darauf hingewiesen, daß der Vorteil, den jeder aus den Normen meiner Minimalmoral ziehen kann, davon abhängt, daß diese Normen in der betreffenden Gruppe oder Gesellschaft tatsächlich in Geltung sind, d.h. von den Mitgliedern der Gruppe oder Gesellschaft allgemein akzeptiert werden. Und zwar müssen diese Normen offensichtlich als kategorische Gebote (etwa "Töte nicht") akzeptiert werden. Als bloß hypothetische Gebote (etwa "Töte dann nicht, wenn es deinen Interessen dient") wären sie zum einen vollkommen überflüssig; denn sie würden zu keinem anderen Ergebnis führen, zu dem nicht auch die Anwendung der allgemeinen Form des hypothetischen Imperativs (etwa "Tue das, was zur Realisierung deiner Interessen notwendig, ist") unmittelbar auf jeden konkreten Fall führt. Sie würden vor allem aber auch den Zweck ihrer Erfindung und Institutionalisierung (nämlich etwa: der einzelne erkauft sich durch seinen eigenen Tötungsverzicht die Sicherheit seines Überlebens) offensichtlich verfehlen. Ja, die Ingeltungsetzung und Bewahrung der betreffenden Normen kann nur unter der Voraussetzung durch den hypothetischen Imperativ begründet werden, daß die Normen selbst (mit dem, was sie im Einzelfall fordern) in einem kategorischen Sinne aufgefaßt werden.

Dieser Umstand erledigt aber noch nicht eigentlich das Problem des sogenannten Trittbrettfahrens: Könnte sich nicht das einzelne Gruppenmitglied sagen, daß es, solange die betreffenden Normen von allen anderen befolgt werden, noch mehr von ihrer sozialen Geltung profitieren würde, wenn es sich seinerseits ihrer kategorischen Befolgung entziehen würde? Und könnte nicht letztlich jedes einzelne Gruppenmitglied auf diesen naheliegenden Gedanken kommen mit dem Resultat, daß die allgemeine Geltung der Normen über kurz oder lang wieder zusammenbrechen müßte? An diesem Punkt wird deutlich, wie wichtig es für mein Modell ist, daß das Phänomen der Normgeltung in einem sozial relevanten Sinn verstanden wird. Damit meine ich folgendes: Es würde nicht ausreichen, wenn jeder die betreffenden Normen lediglich im privaten Sinne für sich selbst akzeptiert. Es muß vielmehr hinzukommen, daß jeder auch jeden anderen als an die Normen gebunden betrachtet und auf die Normbefolgung jedes anderen Druck ausübt. Auf diese Weise ist nunmehr das Akzeptieren der Normen durch jedermann an die vielfältigsten informellen Sanktionen geknüpft und damit normalerweise sichergestellt. Diese informellen Sanktionen sind vor allem Tadel und Verachtung durch die Mitmenschen, durch die öffentliche Meinung; zu denken ist aber auch an die typischen Sanktionen, die mit Erziehung und Sozialisation der heranwachsenden Generation verbunden sind: lauter Maßnahmen, mit denen eine soziale, zwischenmenschliche Normgeltung notwendig Hand in Hand geht. Angesichts dieser sozialen Druckmittel (zu denen im Fall besonders wichtiger Normen, wie der des Tötungsverbots, noch die massiveren Sanktionen des Rechts treten) hat nun jeder auch von seinen eigenen Interessen her einen guten Grund, die betreffenden Normen zu internalisieren, d.h. in sich die Disposition ihrer kategorischen Befolgung zu entwickeln und zu kultivieren.

Das aber hat eine wichtige Konsequenz: Selbst wenn in diesem oder jenem konkreten Konfliktfall zwischen Eigeninteresse und Normbefolgung die externen Sanktionen (der Gesellschaft) etwa mangels Furcht vor Entdeckung nicht greifen sollten, so bleiben aufgrund der Norminternalisierung immer noch die internen Sanktionen des "schlechten Gewissens", die in Richtung Normbefolgung wirken. Zwar wäre es realitätsfern, leugnen zu wollen, daß Fälle vorkommen, in denen weder die externen noch die internen Sanktionen einen Normverstoß verhindern können. Einzelfälle eines Normverstoßes schließen jedoch nichts aus, daß die Normen sich als im großen und ganzen wirksam erweisen und damit ihre Funktion eines allgemeinen Interessenschutzes in hohem Maße erfüllen können.

Die Verknüpfung, die meine Art der Moralbegründung zwischen Moral und Klugheit vornimmt, ist also um einiges komplexer als etwa die Forderung eines gradlinigen Handlungsegoismus (etwa "Führe stets die Handlung aus, die am besten deinen Interessen dient"). Wer jedoch seinen Moralbegriff auch schon durch meine sich langfristigen Klugheitserwägungen verdankende Begründungsform unerträglich abgewertet sieht, dem gegenüber bin ich gern bereit, auf die Verwendung der Ausdrücke "Moral" oder selbst "Minimalmoral" zu verzichten, sofern er mir nur zugesteht, daß sich mithilfe meines Modells einige wichtige soziale Normen man nenne sie im übrigen, wie man wolle – weitestgehend intersubjektiv begründen lassen.

Ich möchte zum Schluß meiner Ausführungen noch kurz auf einen Punkt eingehen, der das Problem der Gerechtigkeit, das Problem der gerechten Verteilung von Rechten und Pflichten im Rahmen meiner Minimalmoral betrifft. Ließe sich, so könnte jemand fragen, von meinem individual-rationalistischen Ansatz aus nicht ohne weiteres so etwas wie eine Sklavengesellschaft rechtfertigen? Das heißt: Könnte man nicht argumentieren, daß eine machtvolle Mehrheit in der Gesellschaft ihre eigenen Interessen auch langfristig noch besser verfolgen könnte, wenn sie einer Minderheit jene Rechte und Vorteile, die mit der Institutionaliserung meiner Minimalmoral verbunden sind, weitgehend vorenthält? Diese Annahme mag in der Tat unter gewissen historischen Umständen zutreffen. Trotzdem scheint mir, daß es eine Anzahl von Erwägungen gibt, die im Normalfall für jedermann, also auch für den von einem solchen System Privilegierten, einen ausreichenden Grund bilden, die Sklaverei oder allgemeiner: die Unterdrückung oder Unterprivilegierung bestimmter Bevölkerungsteile abzulehnen.

Die erste Erwägung beruht auf der Einstellung der Sklaven zu einem solchen System. Die Sklaven müssen sich realistischerweise sagen, daß die Nicht-Sklaven, die Freien sie ausnutzen; daß diese von den moralischen und rechtlichen Institutionen deutlich mehr profitieren als sie und zwar auf ihre Kosten. Es liegt nahe, daß den Sklaven das Bewußtsein dieser Situation zu einer Quelle ständiger Unzufriedenheit wird. Aufstände und Vergeltungsmaßnahmen gegen die Unterdrücker können die Folge sein.

Nun hat es zwar in der Geschichte Sklavengesellschaften gegeben, die sich als relativ stabil erwiesen haben. Das bedeutet: Die Freien brauchen offenbar nicht permanent einen Aufstand zu fürchten. Man muß aber in diesem Zusammenhang bedenken, daß die weitaus meisten Menschen keine Egoisten (im strikten Sinne des Wortes) sind. Sie verfügen vielmehr (ich wies schon darauf hin) auch über ein gewisses Maß an altruistischer Motivation zumindest im sogenannten Nahbereich, d.h. gegenüber ihren Verwandten und Freunden, Kollegen und Nachbarn. Und zwar bezieht sich dieser Altruismus in der Regel besonders auf das Wohlergehen der eigenen Nachkommen. Das aber bedeutet: Selbst in einer relativ stabilen Sklavengesellschaft müssen den Freien auch Aufstände und Vergeltungsmaßnahmen, die erst seinen Kindern oder Enkeln drohen mögen, vernünftigerweise mit Sorge erfüllen. Mir scheint dieser Gesichtspunkt etwa für die Weißen im heutigen Südafrika einen guten Grund abzugeben, den Schwarzen mehr Rechte als bisher einzuräumen.

Die zweite Erwägung basiert ebenfalls auf im Kern altruistischen Einstellungen: Es ist durchaus denkbar, daß der einzelne Freie, wenn schon nicht für die Gesamtheit der betreffenden Sklaven oder Unterdrückten, so doch für einige von ihnen, mit denen er möglicherweise näher bekannt oder befreundet ist, Gefühle hat, die durch den minderwertigen Status, den diese Personen als Mitglieder der unterprivilegierten Klasse notwendig genießen, arg frustriert werden. Für mich wäre es beispielsweise ein völlig ausreichender Grund, gegen jede Form von Antisemitismus zu sein, daß ich einige persönliche Freunde habe, die Juden sind.

Eine dritte Erwägung schließlich beruht darauf, daß die Versklavung oder Unterdrückung einer Minderheit eine Mentalität schafft bzw. einer Mentalität Ausdruck gibt, die geneigt ist, Minderheiten generell, d.h. Minderheiten aller Art nach Gutdünken zu unterdrücken. Eine solche Mentalität aber kann sich eigentlich im eigenen Interesse auf lange Sicht gesehen niemand wünschen. Denn jeder gehört zu irgend einer Minderheit (und sei es auch nur die Minderheit der Individuen mit einer ganz bestimmten Körpergröße), und jeder kann leicht auch ohne sein Zutun von heute auf morgen zum Mitglied einer Minderheit (etwa der Minderheit der unheilbar Kranken) werden.

Allein aus diesen drei Erwägungen heraus (die ich hier nur andeuten konnte) möchte ich dafür plädieren, daß jene Rechte, Ansprüche, Vorteile, Sicherheiten, die dem einzelnen einzuräumen die Funktion meiner Minimalmoral ist, allen Mitgliedern einer Gesellschaft gleichermaßen eingeräumt werden. Auch wenn die verschiedenen von mir vorgebrachten Anti-Diskriminierungsargumente – selbst zusammengenommen – nicht unter allen empirisch möglichen Bedingungen als zwingend erscheinen, so läßt sich doch ganz allgemein folgendes sagen: Eine Gesellschaft, die jedenfalls in diesem fundamentalen Bereich (also im Bereich der grundlegenden Interessen und Rechte meiner Minimalmoral) nicht diskriminiert, hat größere Chancen, sich als stabil zu erweisen und von sozialen Spannungen und Konflikten größeren Ausmaßes – die vermutlich letzten Endes jedermann, also auch den Privilegierten schaden würden – verschont zu bleiben. Eine solche Gesellschaft darf nämlich erwarten, von der Loyalität und freiwilligen Kooperation aller ihrer Mitglieder getragen zu werden.(1)


ANMERKUNGEN:

* Aus: Erkenntnis XX, 1983
(1) Die in diesem Beitrag vertretene Form einer Moralbegründung verdankt wesentliche Anregungen John L. Mackies Buch Ethik, Stuttgart 1981. Zur Ergänzung vgl. auch meinen Aufsatz ‚Rechtsethik ohne Metaphysik‘, Juristenzeitung 1982, S. 265 ff. und 714ff.



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