Dr. Joachim Jung (Wien)

Die Todesstrafe

Wie man Mord legalisiert

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/1999, S. 98-105


Die Todesstrafe ist zugegeben ein ziemlich heikles Thema, und es ist nicht klar, wie man sich ihm am besten nähert. Vielleicht ist es ein passender Einstieg, wenn man diese Frage zunächst einmal dialektisch betrachtet, indem man die Vor- und Nachteile gegeneinander abwägt. Wenn man sich den Vorteilen zuwendet, dann mag man in der Todesstrafe eine altehrwürdige Tradition erkennen, die in unserer aufgeklärten Zeit mehr und mehr vom Verfall bedroht ist. Während im Zeitalter des Humanismus, also im frühen 16. Jahrhundert, jede deutsche Stadt ihren eigenen Henker hatte, findet man heute in der Mitte Europas keinen einzigen mehr, der dieses Handwerk ausübt. Dabei ist es unbestreitbar, daß der Beruf des Scharfrichters dazu beiträgt, Menschen in Brot und Arbeit zu setzen. Wenn man in der Bundesrepublik Deutschland wieder einen Henker einstellen würde, könnte man die Arbeitslosigkeit von 4.000.000 auf 3.999.999 senken. Das wäre ein kleiner, aber doch unbestreitbarer Fortschritt. Wenn man dann noch ein paar Stellen für Henkersknechte schafft, könnte man die Zahl der Arbeitslosen um weitere 3 – 5 Personen verringern.

An Bewerbern und Interessenten würde es sicherlich nicht fehlen. Die ostdeutschen Skins würden sich reihenweise anstellen, um sich auf ihre Fähigkeit zur Eliminierung von Missetätern prüfen zu lassen. Sie würden sich glücklich schätzen, wenn sie von Zeit zu Zeit Menschen zur Strecke bringen und dafür auch noch bezahlt werden würden. Früher fanden diese Skins und ihre Gesinnungsgenossen ein reiches Betätigungsfeld in der Nationalen Volksarmee, wo sie Leuten, die über die Grenze wollten, nach Herzenslust in den Rücken schießen konnten. Diese berufliche Laufbahn bleibt ihnen unter den geänderten politischen Umständen verwehrt. So ist es kein Wunder, daß sie heute keine andere Möglichkeit sehen, als auffällige Personen – Schwarze, Vietnamesen, Araber – zu überfallen und zu verprügeln. Die Wiedereinführung der Todesstrafe gäbe diesen harten Burschen die Möglichkeit, ihre Aggressionen zu kanalisieren und sie für den Staat nutzbar zu machen.

Die Hinrichtungen böten leicht verdientes Geld. Man müßte im ganzen Bundesgebiet nur mit 2 – 3 Amtshandlungen pro Monat rechnen, wobei dem Scharfrichter die ganze moderne Technik zur Verfügung stehen würde, um ihm die Arbeit zu erleichtern. Der Henker müßte lediglich einen Stromschalter umlegen oder die Luke des Galgens öffnen, um dann eine feierliche Miene aufzusetzen und zu verkünden: "Der Gerechtigkeit ist Genüge getan." Ein weiterer ersprießlicher Aspekt der Todesstrafe bestünde darin, daß man der Bevölkerung sichtbar vor Augen führen könnte, wie der Rechtsstaat seine Stärke beweist. Optimal wäre es, wenn diese Veranstaltungen öffentlich zugänglich wären, wie es in früheren Zeiten üblich war. Wenn im 18. Jahrhundert in den großen europäischen Städten jemand hingerichtet wurde, kamen Tausende, in manchen Fällen sogar Zehntausende von Zuschauern zusammen, um sich an der Veranstaltung zu delektieren. Fliegende Händler fanden sich ein und verkauften Speisen, Getränke und Andenken und machten dabei ein Geschäft wie sonst im ganzes Jahr nicht. So hat die Todesstrafe unmittelbar die wirtschaftlichen Interessen der Geschäftsleute gefördert. In unserer heutigen Zeit könnten wohlinszenierte Hinrichtungen dazu beitragen, die Einschaltziffern der Fernsehsender zu erhöhen. Man könnte Exekutionen in voller Länge übertragen und sie über Satellit in der ganzen Welt verbreiten. Das authentische Blutvergießen würde dem Publikum einen Thrill geben, an den Morde in Kriminalfilmen mit ihrem künstlichen Blut und ihren aufgemalten Wunden einfach nicht herankommen.

So, meine Damen und Herren, ich muß gestehen: Sie werden mir allmählich zu schwer. Nachdem ich Sie eine Zeitlang auf den Arm genommen habe, werde ich Sie jetzt wieder zu Boden setzen. Ich hoffe, es ist klar geworden, was ich mit alldem sagen wollte: jede Verteidigung der Todesstrafe ist zynisch. Zynisch ist der Hinweis auf die Nützlichkeit von Hinrichtungen. Zynisch ist die Behauptung, dem Vergeltungsbedürfnis der Bevölkerung müsse Rechnung getragen werden. Deutlich wird dies vor allem in jenem Land, in dem Hinrichtungen seit jeher mit einer relativ großen Publizität einhergehen, nämlich in den USA. Seit Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1977 wurden dort 391 Exekutionen durchgeführt, davon 127 in Texas.(1) Texas hat sich zum wichtigsten Staat der amerikanischen Todesindustrie entwickelt. Verantwortlich dafür ist der dortige Gouverneur George Bush jr., der sich mit hartem Durchgreifen bei der Bevölkerung beliebt machen und damit seine Wiederwahl sichern will. Gnadengesuche pflegt George Bush prinzipiell abzulehnen. Sein oberster Grundsatz ist die gleiche Behandlung aller Todeskandidaten, die keine Ausnahmen zuläßt.

Unter diesen Umständen erscheint es allerdings erstaunlich, daß in den USA seit Jahren ein hundertfacher Mörder herumläuft, ohne daß jemand auf den Gedanken käme, ihn vor Gericht zu stellen. Die Morde dieses Verbrechers ereigneten sich im Jahr 1989, genau gesagt zwischen dem 20. und 26. Dezember 1989. Damals überfielen amerikanische Truppen Panama und setzten Präsident Manuel Noriega gefangen. Bevor die amerikanischen Streitkräfte in das Land eindrangen, bombardierten sie die Slums von Panama Stadt. Damals kamen 600 – 700 Menschen ums Leben, fast ausschließlich Zivilisten. Der Politiker, der diese Aktion angeordnet hatte, war George Bush senior, der Vater des heutigen Gouverneurs von Texas. Wenn man nun Mord als Mord behandelt und jedes Verbrechen seine Strafe nach sich zieht, dann muß die Frage gestellt werden: wann wird George Bush junior seinen Vater hinrichten lassen? Daß dies bisher nicht geschehen ist, ist ein großes Versäumnis, für das es keine rationalen Gründe gibt.

Ich glaube, daß dieser Gedanke das wichtigste Argument gegen die Todesstrafe darstellt: die kleinen Mörder hängt man, die großen läßt man laufen. Karla Faye Tucker mußte sterben, weil sie zwei Menschen umgebracht hatte. George Bush sr. gilt als allseits geachteter elder statesman, der trotz hundertfachen Mordes friedlich seine Pension verzehren kann.

Wenn ich dieses Beispiel vorbringe und auch im folgenden überwiegend auf die USA zu sprechen komme, dann tue ich dies nicht aus Antiamerikanismus, sondern einfach deshalb, weil die Lage dort am besten dokumentiert ist und nirgendwo sonst eine so intensive Diskussion stattfindet wie in den USA. In den Staaten Westeuropas hat das Interesse am Thema Todesstrafe rapide abgenommen, nachdem man diese Institution dort sukzessive abgeschafft hatte.(2) In den rückständigen Staaten des Orients wird die Todesstrafe zwar exzessiv angewendet, aber es gibt dort keine breite öffentliche Diskussion darüber und keine verläßlichen Angaben über die Zahl der Exekutionen. Dies findet sich allein in den USA, wo eine aktive und intellektuell orientierte Minderheit die Todesstrafe seit Jahren bekämpft. Bisher konnte sie sich nicht gegen die Mehrheit von 70 Prozent der Amerikaner durchsetzen, die Umfragen zufolge für die Beibehaltung der Todesstrafe eintreten.

Von den Gründen, die gegen Exekutionen sprechen, möchte ich – neben der Ungleichbehandlung – zunächst den hohen Preis nennen, der dafür zu entrichten ist. Eine Hinrichtung kommt in den USA durchschnittlich auf 2 Millionen Dollar. Einen Gefangenen bis ans Ende seiner Tage zu versorgen kostet im Vergleich dazu nur etwa 650.000 Dollar.(3) Die hohen Kosten einer Hinrichtung kommen dadurch zustande, daß die Einsprüche und Appelle, die gegen das Urteil erhoben werden, Unmengen an Geld verschlingen und sich unter Umständen bis zu 20 Jahren hinziehen können. Verhindern ließe sich dies nur durch eine gesetzliche Einschränkung der Rechtsmittel, aber damit würde man die Fairneß des Verfahrens untergraben.

Der dritte Grund gegen die Todesstrafe besteht darin, daß sie nicht abschreckend wirkt. Wenn sie eine abschreckende Wirkung hätte, dann hätte in allen Staaten, die diese Institution abschafften, die Mordrate rapide ansteigen müssen. Dies war jedoch nicht der Fall. Wenn man die entsprechenden Statistiken vergleicht, kommt man zum Ergebnis, daß sich kein einheitlicher Trend feststellen läßt. In England ist die Mordrate gestiegen, nachdem man die Todesstrafe abgeschafft hatte. In Kanada dagegen ist die Mordrate gesunken.(4) Auch in Schweden und in den Niederlanden gingen die Mordfälle zurück, nachdem man auf Exekutionen verzichtet hatte.(5)

Die Todesstrafe schreckt nicht nur nicht ab, sondern trägt ganz im Gegenteil zur Brutalisierung der Gesellschaft bei. Ein Staat, der seine Bürger hinrichten läßt, macht damit deutlich, daß der Wert eines Menschenlebens auf Null sinken kann. Wo nicht von vorneherein feststeht, daß ein Menschenleben sakrosankt ist, kann es leicht passieren, daß der Bürger die schlechten Gewohnheiten des Staates übernimmt und genau so brutal vorgeht, wie er es täglich bei den Machthabern erlebt.

Wie wenig die Todesstrafe abschreckt, zeigt sich an einem historischen Beispiel. Im England des 18. Jahrhunderts wurde man wegen jeder Kleinigkeit gehängt. Die Hinrichtungen fanden öffentlich statt und wurden von einer schaulustigen Menge begafft. Während der Veranstaltungen gingen Taschendiebe durch die Menschenmenge und erleichterten die gebannt schauenden Personen um ihre Barschaft. Dies taten die Taschendiebe, während ihre Kollegen auf dem Schafott gerade vom Leben zum Tod befördert wurden.(6)

Befürworter der Todesstrafe vertreten häufig die Ansicht, bei Mördern handle es sich um Berufskriminelle, die sich jeder Rehabilitierung widersetzen. So hat der amerikanische Jurist Robert Crowe die Auffassung vertreten, daß der Mord immer am Ende einer langen kriminellen Karriere stehe. Daher sollten Mörder, und zwar auch dann, wenn sie unzurechnungsfähig sind, rechtzeitig eliminiert werden, um die Gesellschaft vor weiterem Schaden zu schützen.(7) Allerdings ist der unbelehrbare Wiederholungstäter unter Mördern eine Ausnahmeerscheinung. Arthur Koestler hat in seinem Buch "Die Rache ist mein"(8) nachgewiesen, daß die meisten Mörder, die in den fünfziger Jahren in Großbritannien hingerichtet wurden, vorher nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten waren. Die wenigsten Delinquenten waren enthemmte Berufskiller. Aber ganz gleich, wie man die Sache dreht oder wendet: eine Abschreckung bedeutet die Todesstrafe weder für die Serienmörder, die jede Selbstkontrolle verloren haben, noch für die Durchschnittsmenschen, die einen Gegner aus Rache oder Eifersucht beiseiteräumen.

Das vierte Argument gegen die Todesstrafe, das sich wiederum auf die amerikanischen Verhältnisse bezieht, besteht darin, daß ihr fast ausschließlich arme und notleidende Menschen zum Opfer fallen. 99,5 Prozent aller Todeskandidaten in den USA hatten nicht genug Geld, um sich einen eigenen Verteidiger leisten zu können und mußten auf einen staatlich bezahlten Pflichtverteidiger zurückgreifen.(9) Ein Mörder, der über Geld verfügt, braucht nicht zu befürchten, von der Todesstrafe eingeholt zu werden. Er kann sichergehen, daß sein Verteidiger entweder einen Freispruch bewirken oder zumindest mildernde Umstände oder eine vorübergehende Geistesstörung geltend machen kann. In den USA kommentiert man diese Zustände mit dem kaum übersetzbaren Wortspiel: "Capital punishment means: those without the capital get the punishment."(10)

Der fünfte Punkt, den man gegen die Todesstrafe anführen kann, besteht darin, daß die lex talionis nicht gewährt wird. Unter lex talionis versteht man die Regel, daß die Strafe dem Verbrechen adäquat sein muß. Das heißt: ein Mensch, der tötet, muß seinerseits getötet werden. Die lex talionis würde jedoch nur dann gewahrt werden, wenn ein Mörder, der auf frischer Tat ertappt wird, im Laufe von zehn Minuten abgeurteilt und im Laufe von weiteren zehn Minuten hingerichtet werden würde. Dies ist jedoch nicht der Fall. In den USA vergehen zwischen Verurteilung und Exekution durchschnittlich neun Jahre. Diese Zeit verbringt der Gefangene in einer Zelle, die 2 x 2,50 m mißt, und zwar 22 Stunden am Tag. Diese Behandlung bedeutet eine zusätzliche Bestrafung, die der Tat nicht adäquat ist. In der Regel bringt ein Mörder sein Opfer ziemlich bald um. Mir ist kein Fall bekannt, daß ein Mörder sein Opfer über Jahre hinweg gefangengehalten und ihm täglich angekündigt hätte, daß er es umbringen wird und daß es aus seiner Zelle kein Entrinnen gibt.

Gegner der Todesstrafe unterstreichen ihre Argumente häufig damit, daß sie besonders grausame Fälle von Hinrichtungen beschreiben. Befürworter der Todesstrafe reagieren dann damit, daß sie besonders grausame Mordfälle beschreiben. Diese Aufrechnung von Verbrechen und Strafe ist dann nicht mehr möglich, wenn man die Haftbedingungen beschreibt, unter denen Todeskandidaten gehalten werden. Diese Bedingungen stehen in keinem Verhältnis mehr zur Tat. Zur Veranschaulichung mag ein Bericht über den Gefangenen Henry Arsenault dienen, der im Jahr 1980 im Staat Massachusetts auf seine Hinrichtung wartete. Ein Zeuge beschreibt diese Vorgänge folgendermaßen:

"Über zwei Jahre hatte Henry Arsenault in der Todeszelle verbracht. Während dieser Zeit hatte er das Gefühl, daß das Todesurteil allmählich und schrittweise an ihm vollstreckt wurde. Arsenault dachte unentwegt an den Tod. Obwohl es mehrere Aufschübe gegeben hatte, glaubte er nie daran, daß er der Hinrichtung entkommen könne. Tag für Tag beherrschte ihn eine erstickende zitternde Furcht, die ihn innerlich aufzehrte. Wenn es ihm gelang, einzuschlafen, fuhr er immer wieder auf, in Angstschweiß gebadet. Seine Kehle war so zugeschnürt, daß er oft nicht essen konnte. Sein Bauch verkrampfte sich. Er urinierte unkontrolliert. Er konnte nicht still sitzen. Ein Wächter bewachte ihn die ganze Zeit hindurch, damit er nicht Selbstmord beging. Der Wächter war da, wenn Arsenault von Alpträumen gepackt wurde, und er war da, wenn er seine Hose näßte. Für Arsenault gab es keine Intimsphäre und keine Menschenwürde mehr. Von den Wächtern abgesehen war er in den Tagen vor der Exekution die meiste Zeit allein.

Nach drei schlaflosen Wochen, fünf Tagen, in denen er nicht essen konnte, und einer Nacht, in der er unentwegt hin und hergegangen war, brach der Tag der Hinrichtung an. Der Wächter erschien und erklärte ihm die gesetzlichen Bestimmungen: keine Medikamente, keine Sonderwünsche für die letzte Mahlzeit und keine Besucher. Nur Familienangehörige hätten ihn besuchen können. Arsenault hatte aber keine Familie. Der Gefangene bat den Wächter, zur Richtstätte gehen zu dürfen. Die Zeit nahte heran. Arsenault ging zur Hinrichtungskammer und wandte sich dem Stuhl zu. Der Wächter erklärte ihm jedoch, daß er noch über eine Stunde auf seine Hinrichtung warten müsse. Arsenault saß in einer Ecke des Raumes, während die Zeugen allmählich eintrafen und sich hinter einem nur einseitig einsehbaren Spiegel versammelten. Als der Henker den Stuhl ausprobierte, flackerten die Lichter des Gefängnisses. Arsenault hörte, wie die anderen Gefangenen aufschrieen. Dann gab der Pfarrer seinen Segen. Arsenault hörte, wie die Tür des Raums zuschlug, wie das Geräusch als Echo nachhallte und die Uhr leise tickte. Arsenault näßte seine Hose. Weniger als eine halbe Stunde vor der Hinrichtung traf die Nachricht ein, daß der Gouverneur ihn zu lebenslanger Haft begnadigt hatte. Arsenault konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Die Wächter trugen ihn in die Zelle zurück. Er zitterte unkontrolliert. Ein Arzt gab ihm ein Beruhigungsmittel. Dann schaffte man ihn aus dem Todestrakt fort."(11)

Das Entsetzen, das diese Beschreibung hervorruft, würde noch verstärkt werden, wenn man sich vorstellt, daß Arsenault unschuldig gewesen wäre. Damit bin ich beim sechsten und letzten Argument gegen die Todesstrafe angekommen, nämlich der großen Gefahr, einen Justizirrtum zu begehen. Die Anwendung der Höchststrafe hat neben zahlreichen Schattenseiten auch den Nachteil, daß sie irreversibel ist. Wenn der Staat das Risiko eines Justizmordes eingeht, zeigt er damit, daß er dem Leben des einzelnen Bürgers nur eine sehr relative Bedeutung beimißt. Dabei ist die Möglichkeit eines Justizirrtums keineswegs theoretischer Natur, wie der Fall Josef Jakubowski beweist.

Josef Jakubowski war ein russischer Kriegsgefangener, der sich nach dem Ersten Weltkrieg in einem mecklenburgischen Dorf niederließ und sich als Landarbeiter verdingte. Dort freundete er sich mit der Magd Ida Nogens an, die zwei uneheliche Kinder hatte. Noch bevor das Paar heiraten konnte, starb Ida Nogens. Ihre beiden Kinder Ewald und Anna wurden in die Obhut der Großmutter übergeben. Wenige Monate später, am 9. November 1924, wird der dreijährige Ewald Nogens ermordet aufgefunden. Der Verdacht fällt auf Josef Jakubowski, den einzigen Ausländer im Dorf. Er wird vor Gericht gestellt und nach einem fadenscheinigen Indizienprozeß im März 1925 zum Tode verurteilt. Elf Monate später endet er unter dem Fallbeil. Zwei Jahre danach stellte sich heraus, daß er unschuldig war. Die Familie des ermordeten Kindes, die Großmutter und ihre beiden Söhne, hatten den Mord gemeinsam geplant und sich verschworen, den Verdacht auf Josef Jakubowski zu lenken. Während der Gerichtsverhandlung hatten die drei Zeugen dem russischen Landarbeiter, der sich kaum verständlich machen konnte, die übelsten Eigenschaften unterstellt. Ihr Komplott, mit dem unehelichen Kind zugleich auch den Fremdarbeiter aus dem Weg zu räumen, war auf verheerende Weise aufgegangen. Nur durch eine List gelang es einem Kriminalbeamten 1928 die Familie Nogens zu überführen. Der Mörder August Nogens erhielt eine lebenslange Haftstrafe; seine Mutter und sein Bruder wurden zu befristeten Strafen verurteilt.(12) Die Blamage, die der Fall Jakubowski der deutschen Justiz einbrachte, führte dazu, daß die Todesstrafe in Deutschland bis 1933 kaum noch vollstreckt wurde.

Die größte Studie, die bisher zum Thema "Justizmord" in Auftrag gegeben wurde, stammt aus den USA. "1987 veröffentlicht, zeigt sie, daß zwischen 1900 und 1985 amerikanische Gerichte 350 Personen wegen Kapitalverbrechen irrtümlich zum Tode verurteilt hatten. In den meisten Fällen hatten neue Beweise zu Freisprüchen geführt. Immer einige Jahre nach der Verurteilung. Für 23 Verurteilte kam das richtige Urteil zu spät – sie waren schon hingerichtet worden. Wie hoch die Dunkelziffer ist, weiß niemand. Fachleute schätzen, daß auf einen entdeckten Justizirrtum mindestens ein unentdeckter kommt."(13)

Keineswegs selten sind die Fälle, in denen Fehlurteile nicht durch Irrtümer, sondern durch bewußte Irreführung verursacht wurden. Wenn ein Mord passiert, greift man irgendeinen Verdächtigen auf und versucht dann, den Fall so schnell wie möglich abzuschließen. Durch Zweifel läßt man sich nicht beirren, denn das würde ja der Öffentlichkeit zeigen, daß die Justiz fehlbar ist. Dieser Mentalität fiel im Jahr 1968 der schwarze Amerikaner James Richardson zum Opfer. James Richardson arbeitete auf einer Obstfarm in Florida. Als er und seine Frau eines Tages von der Arbeit nach Hause kamen, entdeckten sie, daß alle ihre sieben Kinder tot waren. Kurz darauf wurde Richardson verhaftet und beschuldigt, seine Kinder vergiftet zu haben. Als einziges Indiz führte man den Umstand an, daß Richardson kurz zuvor eine Lebensversicherung für seine Kinder abgeschlossen hatte. Dabei sah man über den Umstand hinweg, daß die Versicherung zum Zeitpunkt des Ablebens der Kinder noch nicht rechtskräftig war. Um den Prozeß zu beschleunigen, wurden drei Gefangene bestochen auszusagen, Richardson habe ihnen gegenüber seine Schuld gestanden. Als einer der drei seine Aussage später widerrief, wurde dies nicht zur Kenntnis genommen. Richardson wurde einem Lügendetektor unterworfen, aber die Ergebnisse des Tests verschwanden spurlos. Der Verdächtigte wurde für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Nach vier Jahren in der Todeszelle begnadigte man Richardson zu lebenslanger Haft.

Erst nach langen Jahren kam die Wahrheit ans Licht: die Kinder Richardsons waren von der Nachbarin vergiftet worden. Sie hatte vorher schon ihren ersten und ihren zweiten Ehemann ermordet. Die Frau gestand die Tat gegenüber ihren Kolleginnen, den Schwestern einer Privatklinik. Im Krankenhaus wurde dieses Geständnis vertuscht, weil man um den Ruf der Anstalt fürchtete. Als die Fakten schließlich doch durchsickerten, nahm der Staatsanwalt sie zwar in die Akte Richardson auf, aber er hielt das 900 Seiten umfassende Dossier unter Verschluß, um einen Skandal zu vermeiden. Richardson hätte zweifellos den Rest seines Lebens im Gefängnis verbracht, wenn nicht die Akte eines Tages gestohlen und an Journalisten des "Miami Herald" übergeben worden wäre. So kam es dazu, daß Richardson seine Unschuld beweisen konnte und nach 21 Jahren Haft freigelassen wurde.(14)

Es besteht übrigens keine Notwendigkeit, im Zusammenhang mit der Todesstrafe immer nur die USA anzuklagen, denn auch unser eigenes Land hat in dieser Hinsicht eine betont unrühmliche Vergangenheit. Die Todesstrafe war auch in unseren Breiten lange Zeit unbestritten und wurde exzessiv gehandhabt. So ist überliefert, daß im frühen 16. Jahrhundert allein in der Freien Reichsstadt Nürnberg pro Woche durchschnittlich ein Mensch hingerichtet wurde.(15) In den meisten deutschen Staaten blieb die Höchststrafe in Kraft, bis sie 1849 von der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt offiziell für abgeschafft erklärt wurde, ein Akt, der jedoch ohne Folgen blieb. Es sollte noch hundert Jahre dauern, bis die Abolitionisten in einem deutschen Parlament wieder die Mehrheit erhielten. Sowohl 1870 als auch 1919 trat bei den betreffenden Abstimmungen nur eine Minderheit für die Abschaffung der Todesstrafe ein. Den entscheidenden Stimmungsumschwung brachte die Tatsache, daß die deutsche Justiz zwischen 1940 und 1944 15.000 Todesurteile fällte und vollstreckte. Diese negativen Erfahrungen führten dazu, daß man 1949 bei der Abfassung des Grundgesetzes die Todesstrafe für abgeschafft erklärte (Art. 102 GG).

Während in Deutschland aus historischen Lehren Schlüsse gezogen wurden, tat man sich bei den Vereinten Nationen damit etwas schwerer. In der Menschenrechtserklärung von 1949 wurde die Todesstrafe nicht explizit verboten. In den travaux préparatoires hatte man diese Frage nicht einmal diskutiert. Der ganze Kanon der Menschenrechte enthielt nur zwei Bestimmungen, aus denen man bei etwas gutem Willen eine Ablehnung der Todesstrafe herausinterpretieren konnte. Dies war der Artikel 3, der das Recht auf Leben garantiert und der Artikel 5, in dem es heißt: "Niemand darf der Folter oder grausamer unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden." Was dabei als "grausam", "unmenschlich" oder "erniedrigend" zu gelten hat, war von Anfang an umstritten.

In den folgenden Jahrzehnten verabschiedeten die Vereinten Nationen noch mehrere Resolutionen und Konventionen, um die Bestimmungen über die Menschenrechte zu präzisieren, aber es kam zu keiner Verfügung, die die Todesstrafe explizit und generell verboten hätte. Lediglich in dem "International Covenant on Civil and Political Rights" (1966) beschloß die UN, ihren Mitgliedsstaaten zwei Einschränkungen der Todesstrafe nahezulegen: die Höchststrafe soll nicht angewandt werden bei schwangeren Frauen und nicht bei Personen unter 16 Jahren.

Trotz der Passivität der UN haben zahlreiche Staaten seit 1948 die Todesstrafe abgeschafft. Sie ist ein zu gefährliches Instrument, als daß man sie in den Gesetzeskodex aufnehmen sollte. Menschliches Leben zur Disposition zu stellen erscheint erst dann vorstellbar, wenn kein Gesetz mehr greift und ein Land in totale Anarchie versunken ist. Wenn ein Völkermord tobt, dessen Opferzahl exorbitante Ausmaße erreicht, dann könnte man durch eine gezielte Beseitigung der Mörder ein Ende des Blutvergießens erzwingen. Dies war etwa die Intention der Verschwörer des 20. Juli. Eine solche Einstellung kommt den Forderungen desjenigen sehr nahe, der die erste breite Diskussion über die Todesstrafe in Gang gesetzt hatte: der Mailänder Jurist Cesare Beccaria. In seinem Werk "Von den Verbrechen und den Strafen" (1764) verlangte Beccaria eine generelle Abschaffung der Todesstrafe, bis auf die Ausnahmefälle des Tyrannenmords und der Anarchie. Damit hat Beccaria einen Standard gesetzt, der auch in unserer heutigen Zeit noch diskutabel bleibt.


Joachim Jung ist Herausgeber der "Zeitschrift für Philosophie" und wohnt in Wien.

Anmerkungen:

(1) Stand Sommer 1997 (aus: Spiegel 24/1997, S. 91 "In der Todesmaschinerie von Texas")

(2) Roger Hood: The Death Penalty. A World-Wide Perspective. Oxford 1989 (Oxford University Press), S. 4

(3) Margit Sprecher: Tod in Texas, in: Die Weltwoche 2.10.1997, S. 51

(4) Hood S. 125

(5) Arthur Brandt: Unschuldig verurteilt. Richter sind nicht unfehlbar. Düsseldorf 1982 (Econ), S. 150

(6) ebd. S. 151

(7) Carol Wekesser (ED.): The Death Penalty. Opposing Viewpoints. San Diego 1981 (2nd ed.) (Greenhaven Press) S. 42f.

(8) Arthur Koestler: Die Rache ist mein. Theorie und Praxis der Todesstrafe. Stuttgart 1961 (Ernst Battenberg Verlag), S. 7 - 157

(9) Hood S. 69

(10) Wekesser S. 154

(11) William Schabas: The Death Penalty As Cruel Treatment and Torture. Capital punishment challenged in the world’s courts. Boston 1996 (Northeastern University Press), S. 103

(12) Brandt S. 15 - 23

(13) Frank Müller: Streitfall Todesstrafe. Düsseldorf 1998 (Patmos) S. 137

(14) Wekesser S. 64f.

(15) Herbert Büchert: Die Todesstrafe. Berlin 1968 (Luchterhand), S. 10



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