Bernulf Kanitscheider (Gießen)

Religion und Sexualität in interkultureller Perspektive

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 9/2004 für Karlheinz Deschner, S. 98-109

Sollten dereinst Außerirdische unseren Planeten besuchen, um unser Sozialsystem und unsere Fortpflanzungsrituale zu untersuchen, wird ihnen eine enorme Diskrepanz auffallen: Die Erdenbewohner scheinen eine Lieblingsbeschäftigung zu haben, der sie mit höchstem Interesse nachzugehen versuchen, machen sich aber zugleich selber die größten Schwierigkeiten, das zu tun, was sie am liebsten möchten.

Karlheinz Deschners umfassende Dokumentation und Analyse der christlichen Sexualmoral(1) lässt den modernen Betrachter ersteinmal mit Kopfschütteln und Ratlosigkeit zurück und mit der Frage, wie eine Spezies eine Religion hervorbringen konnte, die sich derartig heftig problematisierend zu ihrer Fortpflanzung und der dazugehörenden Sexualität verhalten konnte. Wenn man heutige verhaltensgenetische Überlegungen für angemessen hält, wonach die Kulturprodukte im Dienste der Stärke, der Durchsetzung und der Wettbewerbsfähigkeit der Art stehen,(2) dann mutet die Geschichte der christlichen Sexualunterdrückung wie ein Paradoxon an. Es erscheint paradox, widervernünftig, abartig, wenn ein Volk mit sozialen Regeln jenes Potential beschneidet, dämpft und normativ entwertet, das die kompetitive Kraft verringert und sich zudem gegen das Wohlbefinden der Mitglieder der eigenen Gesellschaft richtet.

Der Eindruck der Seltsamkeit wird noch verstärkt, wenn man sich die umgebenden Religionen der antiken Welt ansieht, in denen eine kultische Verehrung des Sexuellen die Regel war. Gerade aus der Perspektive der Soziobiologie scheint es naheliegend, dass die Religion eine kultische Überhöhung und Kodifizierung der lebensdienlichen, lebensförderlichen, lebensverschönernden Züge des Tageslaufes mit sich bringt. Genau das beobachten wir in der babylonischen und hellenischen Religion, wo die höchsten Wesen, die auch die normativen Vorbilder prägen, durch ihr Verhalten die Richtung und die Einordnung der Sexualität vorgeben.

In dieser Hinsicht paradigmatisch muss wohl die religiöse Welt im alten Mesopotamien angesehen werden,(3) wo Ishtar, die akkadische Mutter- und Liebesgöttin, die "Öffnerin des Schoßes" Symbol der Fruchtbarkeit und der Lust war. Die Integration der Sexualität in das Weltbild lässt sich auch daran ablesen, dass der Himmelsgott Anu als Vater von Ishtar und als ihr Bruder die Sonne galten. Manchmal wurde auch der Mondgott Sin als Vater aufgefasst. Jedenfalls handelte es sich um eine Trinität, in der das weibliche Element als Tochter die sexuelle Komponente repräsentierte. Ishtar muss – wie die Keilschrifttexte belegen – einen gewaltigen Appetit auf Sex gehabt haben; sie war das Symbol von Verführung, Lebenskraft und Fortpflanzung. Vermutlich nicht zufälligerweise wurde das weibliche, sinnliche Element aus der göttlichen Trinität darum im christlichen Kontext zum männlichen abstrakten Heiligen Geist, der alle verführerische Erotik verloren hatte.

In ähnlicher Weise wie in der babylonischen, war in der homerischen Religion der Hellenen die Sexualität in natürlicher Weise im Pantheon ebenso wie im Alltagsleben der Griechen inkulturiert. Göttervater Zeus, (Zeus, ho pánton kýrios) Herr aller Dinge, repräsentiert geradezu den Inbegriff der sexuellen Aktivität. Er war nicht nur mit seiner Schwester und Hauptgattin Hera liiert, sondern auch mit seinen verschiedenen anderen Ehefrauen, Geliebten, Nymphen, ebenso wie mit sterblichen Frauen, mit seiner Tochter Persephone und zur Abwechslung auch einmal mit dem Knaben Ganymed.(4) Die Griechen aber statteten nicht nur den obersten Himmelsherren mit gewaltiger Sexualkraft aus, so dass er in 9 Nächten, die er Mnemosyne beiwohnte, die 9 Musen zeugte, sie schufen sich auch als Symbol der Liebe und der Erotik eine eigene Göttin, Aphrodite (Aphrodíte), die nach Hesiod(5) aus dem schäumenden Sperma des von Chronos entmannten Vaters Uranos hervorgegangen war, des Großvaters von Zeus. Aphrodite ist die Göttin für alle Arten von Sexualität, der hetero- wie der homosexuellen und päderastischen Liebe; sie ist für eheliche wie außereheliche Beziehungen zuständig, hat sie doch selbst durch einen Seitensprung mit dem Kriegsgott Ares Eros geboren,(6) der u. a. in Theben und Sparta als Gott der Knabenliebe verehrt wurde. Hesiod hat Eros als kosmogonische Urkraft eingesetzt, um den Übergang des archaischen Chaos zum geordneten Kosmos verstehen zu können. Selbst Platon sieht im vergeistigten Eros noch den Weg für den Aufstieg zu den Ideen.(7) Der Eros war den Griechen als ein Wesen bewusst, dem man kaum widerstehen kann, ja noch mehr eine Kraft, gegen die der Widerstand weder sinnvoll noch möglich ist.(8) Selbst die Stoiker waren der kontrollierten Sexualität nicht abhold und hatten auch bezüglich homoerotischer Beziehungen tolerante Auffassungen. Als Zenons Lieblingsknabe und Schüler Persaios sich in eine hübsche Hetaire verliebt hatte, schloss er die beiden in ein Zimmer ein und ließ sie ohne Eifersucht gewähren.(9)

Auch die römische Religion hatte die Sexualität im Innern ihrer Götterfamilie verankert. Für fast alle Teilfunktionen von Liebe, Ehe und Fortpflanzung gab es spezielle Göttinnen, die den Menschen bei diesen Vollzügen zur Seite standen.(10) Die Göttin Prema sorgte dafür, dass die junge Gattin sich ohne Unruhe von ihrem Mann umarmen ließ, Pertunda half dem Mann in der Hochzeitsnacht bei der Entjungferung und Perfica sorgte dafür, dass der Liebesakt erfolgreich zum Abschluss gelangen konnte. Es gab einen Gott für die eheliche Fruchtbarkeit und Amor (wie vordem Eros) war für heterosexuelle wie auch für homosexuelle Liebe zuständig, für die lesbische Beziehung gab es eine eigene Göttin, Bona Dea. Amor war explizit nicht als Gott der Zeugung gedacht, sondern für jede Art der geschlechtlichen Aktivität zuständig. Auch Venus, Göttin der Liebe und Schönheit als Stammmutter des julischen Kaiserhauses, Venus Genetrix genannt, wurde in einen Tempel, den Caesar für sie auf dem Forum errichtet hatte, verehrt. Wenn man speziell auf die Sinnenlust anspielen wolle, sprach man von der Venus Libertina und von den Figurae Veneris spricht man bis heute.

Diese wohlbekannten historischen Tatsachen drücken eine eminente Integration des Erotischen und Sexuellen in der Gesellschaft der hellenischen und römischen Antike aus, die in ihrer Intensität auch in der aufgeklärten Neuzeit nie wieder erreicht worden ist. Dagegen mutet die israelitisch-jüdische Tradition der Regelung des Sexuallebens bereits zur Frühzeit extrem formalistisch an. Moses Maimonides (12. Jh.), der dieses Regelsystem später zusammengefasst hat, zählt 28 Sexualgebote und 66 Sexualverbote auf,(11) wobei die meisten aus unserer Sicht in ihrer biologischen Funktion kaum einsehbar sind, wie etwa das Verbot des Kleidertausches von Mann und Frau. Überdies erscheinen die Strafen für die Übertretung der Gebote in einer absurden Unverhältnismäßigkeit zu stehen, wenn etwa die gleichzeitige Beziehung eines Mannes zu Mutter und Tochter mit dem Feuertod bedroht wird,(12) obwohl es sich in diesem Fall keinesfalls um eine Übertretung des Inzestverbotes handelt. Das gesamte formale Regelwerk entbehrt völlig des spielerischen Elementes und wirkt in seiner Strenge als von inhumaner Rücksichtslosigkeit. Man könnte diesen Vorwurf als anachronistisch abweisen, wenn man nicht wüsste, dass zur gleichen Zeit in benachbarten Kulturen ein viel heiterer Umgang mit den Partnerschaftsproblemen üblich war, wobei die Existenz- und Überlebensbedingungen bei den damaligen Völkern von vergleichbarer Schwierigkeit waren. Die heftige Fokussierung auf den theonomen Gesetzesbegriff prägte im jüdischen Bereich die Sexualethik weit über das lebensdienliche Maß hinaus. Hier zeigen sich die Nachteile eines strengen Monotheismus, wo Gott getrennt vom Geschehen der Welt seine Gesetze erlässt, im Gegensatz zu dem polytheistischen Götterhimmel, bei dem die einzelnen Götter in funktionaler Trennung für die einzelnen Lebensvollzüge der Menschen Zuständigkeit besitzen. Der asexuelle jüdische Gott, dem keine Göttin zur Seite steht, mit der er im Himmel als Vorbild für die irdische Paarung die heilige Hochzeit (hieròs gámos) vollzieht, erzeugte durch seine Einheit und Einzigkeit sowie durch seine starke gesetzgebende Kraft jene Enge im sexualethischen Regelwerk, unter dem das jüdisch-christliche Abendland zu leiden hatte. Wäre der hellenische Polytheismus direkt mit dem germanischen Vielgottglauben in Kontakt gekommen, hätte sich vermutlich niemals die asketische Strenge in der Normierung des Sexuellen entwickeln können. Wenn man kontrafaktische Historie betreiben wollte, könnte man vermuten, dass die in der Spätantike vorhandenen empiristischen und skeptischen Strömungen (Sextus Empiricus) beim Auftreffen auf die kaum entwickelte autochthone Reflexion gegenüber der germanischen Mythologie sehr schnell zu einem kritischen Bewusstsein und damit wesentlich früher zur Aufklärung geführt hätte. Alle wesentlichen Bestandteile des Humanismus, ja sogar der Menschenrechte(13) waren im Prinzip in hellenistischer Zeit vorhanden, es hätte eines bedeutenden Geistes in der Spätantike bedurft diese Elemente, ohne den störenden Einfluss des jüdisch-christlichen Theismus, zu synthetisieren.

K. Deschner hat den Weg der jüdisch-christlichen Sexualregeln minutiös und historisch überaus genau belegt und rekonstruiert. Der Religionsgründer selber wird von ihm relativ milde und sicher korrekt als keineswegs sexualfeindlich charakterisiert. Aber doch fällt auf, gerade wenn man den hohen Stellenwert der Erotik in den zu Jesus Zeiten noch voll aktiven antiken Kulturen betrachtet, wie farblos und desinteressiert alles wirkt, was in dieser Zeit von ihm über den gesamten Komplex berichtet wird. Sicher, er predigte keine Askese, war kein Feind der Frauen.

U. Ranke-Heinemann schließt sich sogar der These des jüdischen Religionswissenschaftlers Ben-Chorin an, wonach Jesus verheiratet war.(14) Es war damals allgemeine jüdische Auffassung, dass ein Jüngling ohne Ehefrau sich so in der Gewalt des Triebes befindet, dass er ein ausgeglichenes Leben nur führen kann, wenn er sich verehelicht. Für die meisten Gläubigen ist aber bis heute allein die Vorstellung eines Geschlechtslebens des Gründers der christlichen Religion eine blasphemische Entwürdigung, wohingegen keinem Griechen die Idee gekommen wäre, dass die sexuellen Aktivitäten von Zeus seiner Würde Abbruch tun könnten.

Jesus hatte weibliche Anhängerschaft und der Ehebrecherin, die aus alttestamentarischer Sicht ja den Tod verdient hätte, half er aus der Verlegenheit.(15) Aber schon hier hätte man sich gewünscht, dass Jesus einmal nach den Gründen für ihre Seitensprünge fragt, vielleicht war ihr Mann ja ein notorischer Langweiler, ein gefühlloser Liebhaber, ein verständnisloser Partner, der die sexuellen Bedürfnisse seiner Frau ignorierte. Auch ihr Liebhaber hätte eine Befragung verdient, möglicherweise war er ein wesentlich besserer Akteur, der die Sensibilitäten der frustrierten Frau verstand und sie glücklicher machen konnte als ihr Ehemann. Jedenfalls standen die Interessen der Frau in der jesuanischen Ethik überhaupt nicht zur Debatte, es ging ausschließlich um den Regelverstoß und das zugehörige Strafausmaß. Eine wesentliche Komponente eines modernen Humanismus, die Berücksichtigung der Bedürfnisse, Wünsche und Triebdispositionen der Frau waren der jesuanischen Ethik fremd.

Ein Element des Ehekonzeptes der jesuanischen Ethik erscheint aus psychologischer Perspektive völlig unrealistisch und auch von totaler Verständnislosigkeit für die menschlichen angeborenen Reaktionsmuster geprägt. Während das AT nur den effektiven Ehebruch verbietet,(16) verschärft Jesus dieses Gebot dahingehend, dass schon die Vorstellung oder das gedankliche Durchspielen eines außerehelichen Kontaktes, sozusagen der virtuelle Ehebruch, sündhaft sei.(17) Es ist nicht nur die tatsächliche "Unzucht", sondern es sind speziell die "Unzuchtgelüste", die den Menschen verunreinigen.(18) Entweder ist derjenige, der dies sagt, die Konstruktion einer Person, die in Wahrheit nie gelebt hat, oder dem leiblichen Jesus waren die normalen Reaktionen der Geschlechter auf einander völlig unbekannt. Auch ohne Kenntnis der evolutionsbiologischen Hintergründe hätte er wissen können, dass jeder (heterosexuelle) Mensch prima vista positiv auf ein attraktives Exemplar des anderen Geschlechtes reagiert und das Gehirn je nach zur Verfügung stehender Zeit automatisch eine erotisch-sexuelle Relation mit dem Gegenüber durchspielt. Dies ist ein gar nicht beeinflussbares, durch feste Engramme gesteuertes Reaktionsschema, das erst nachfolgend durch verstandesmäßige Verarbeitung gelenkt werden kann. Die Primärreaktion ist somit als unsteuerbarer Reflex ethisch neutral, und es ist völlig unsinnig, das spontane Begehren bereits moralisch aufzuladen. Erst dort, wo das Reflexionsmoment einsetzt, wo Handlungen gesteuert werden können, wird Moral relevant. Der Verstand kann dann weitere Annäherungen an das attraktive Gegenüber bremsen, z. B. mit der Überlegung, dass das Objekt der Begierde ja schon in guten Händen sei, dass er/sie bestens emotional versorgt sei und keiner zusätzlichen Beglückung bedürfe. Mit solchen Überlegungen kann der Primärimpuls gesteuert und dann auch in eine sozialverträgliche Richtung gelenkt werden.

Auch Gerhard Streminger hat in seiner Analyse der Jesuanischen Ethik dieses Moment hervorgehoben, das darauf hinweise, dass der Nazarener seine Grundsätze nicht voll zu Ende gedacht hat. "Wenn es auf dasselbe hinausläuft, ob man die Ehe bricht oder eine Frau begehrlich ansieht, dann wird ein Fundament der Sittlichkeit geleugnet, nämlich der entscheidende Unterschied zwischen Impuls und Tat. Wer das Unglück hat, das Verlangen zu einer bösen Tat zu verspüren, hat nun keinen Grund mehr, sie nicht auszuführen, besteht doch laut Jesus zwischen Impuls und Tat ohnedies kein Unterschied. Religiosität zerstört hier Moralität." Damit ist das Grundsatzproblem einer jeden religiösen Ethik angesprochen, die Prinzipien, die einer unreflektorischen Intuition und nicht folgenorientierten Überlegungen entstammen, zeitigen Konsequenzen, die der Stifter zumeist nicht überblickt hat.(19) 

Immerhin taucht schon bei Jesus selbst der unsägliche Begriff der Unzucht (porneia) auf,(20) der dann von Paulus in das Zentrum der christlichen Moral gestellt worden ist und die ganze unheilvolle Entwicklung der Diffamierung von Erotik und Sexualität in Gang setzte. Unzucht umfasste all jene sexuellen Handlungen, die in der griechischen und römischen Antike zum Alltag des Liebeslebens gehörten. Wie C. Cancik deutlich macht, kannten die Griechen gar keine Sexualethik im engeren Sinne,(21) da sämtliche Varianten als Opfer für Aphrodite moralisch positiv belegt waren. Als Beleg für den unverkrampften Umgang der Hellenen mit dem Sexus sei ein unverdächtiger Zeuge angeführt, nämlich Sokrates. Xenophon berichtet folgende charmante Geschichte:(22) Sokrates diskutierte gerade mit seinen Schülern philosophische Probleme in Zusammenhang mit der Liebe, als ihm einfiel, in dieser Sache doch jemand zu befragen, der ex professis dafür zuständig sei, nämlich eine Hetäre. So marschierte das ganze Seminar zu dem Sokrates gut bekannten Freudenmädchen namens Theodote und unterhielten sich mit ihr über Liebesprobleme, Sokrates gab ihr überdies gute Ratschläge für die Gewinnung weiterer Freier. Als beim Abschied Theodote Sokrates fragte, ob er sich nicht selber einmal von ihren Fähigkeiten ein Bild machen wollte, lehnte er dankend ab mit dem Hinweis auf einen momentan sehr geliebten Knaben. Unabhängig davon, ob Xenophon den Ablauf ganz korrekt wiedergegeben hat, sticht doch die Nonchalance, die weltmännische Lebenskunst des Sokrates wohltuend von dem selbstgefälligen Pathos des Nazareners ab, bei dem weder Ironie noch Humor noch pragmatische Lebenskunst zu spüren sind. Sokrates’ Skepsis, seine Bereitschaft auch in Sachen des Wesens der Tugend zuzugestehen, dass er kein überlegenes, sicheres Wissen besitzt, unterscheidet sich in angenehmer Weise von den jüdischen Gesetzeslehren und dem Gründer der christlichen Lehre, bei denen man keine Spur einer Selbstkritik findet oder den Gedanken, einem Irrtum aufgesessen zu sein. Religionsgründer haben generell einen überzogenen Begriff von sich selber, sie treten zumeist mit anmaßender Arroganz auf, entweder gründen sie diese auf außersinnliche Eingebungen oder wie bei Jesus gleich direkt auf die Gottessohnschaft. Damit ist die Spannung zu den der Vernunft und Selbstkritik verpflichteten Philosophen schon vorprogrammiert.

In der Ethik haben Religionsgründer und weltliche Denker ein Überschneidungsfeld, das beide beackern, um den Menschen bei ihren schwierigen Lebensentscheidungen zu helfen, aber mit völlig verschiedener Methodik. Religionsstifter verkünden im höheren Auftrag oder geleitet von spirituellen Intuitionen unangreifbare letztlich verpflichtende Normen, Philosophen liefern Strategien zur Selbsthilfe, indem sie den einzelnen darauf hinweisen, wie er seine Vernunft zur Gestaltung eines glücklichen Lebens einsetzen kann. Nirgendwo wird dieser Kontrast so deutlich wie bei dem Vergleich von Sokrates und Jesus, dem Weisen und dem Seher.

Noch drastischer fällt der Gegensatz zur christlichen Tradition aus, wenn man sich dem Hinduismus zuwendet. In fast allen Religionen, die in vergleichbaren historischen Epochen ihre Blüte erfahren haben, wird dem elementaren Liebesbegehren der Geschlechter auch auf der Ebene des Göttlichen Rechnung getragen. Im hinduistischen Götterhimmel beherrscht die Dreigestalt (trimurti) von Brahma, Vishnu und Shiva das transzendente Geschehen. Auch die abstrakte Weltseele Brahma ist von Frauen wie seiner ersten Gemahlin Savitri und seiner Tochter-Frau Sarasvati umgeben. Krishna ist speziell für die Liebe (bhakti) zuständig und Krishna, seine spätere Verkörperung, ist dafür berühmt geworden, sich die Zeit mit schönen Hirtinnen durch erotische Spiele zu vertreiben. Shiva hat viele Aspekte, dazu gehört aber in jedem Fall auch seine phallische Symbolisierung in Form des lingam. In allen Shiva-Tempeln spielt die schöpferische Vereinigung des Zeugungsgliedes (lingam) mit dem weiblichen Schoß (yoni) eine zentrale Rolle. Ihre Vereinigung bedeutet die kosmische Kreativität und die Rückkehr zu dem ungeteilten Urzustand des Brahman. Shiva zugeordnet ist in völliger symmetrischer Bedeutung seine Gattin Shakti, die auch als Göttin (Devi) verehrt wird. Das weibliche Element ist also in die oberste metaphysische Ebene als völlig gleichberechtigt integriert. Ebenso ist die sexuelle Aktivität ein zentrales Element der Lebensziele: Neben Rechtschaffenheit (dharma), Wohlstand (artha) gilt die körperliche Liebe (kama) als ebenbürtige Form der Lebensgestaltung auf dem Wege zur Erlösung (moksha). In dieser metaphysischen Perspektive hat Vatsyayana (3. Jh. n. Chr.) sein berühmtes Kama-Sutra (Liebesanweisung) verfasst, das leider im Westen seiner tieferen spirituellen Bedeutung beraubt in einer profanierten Form in die Trivialliteratur eingegangen ist. Die religiöse Einbettung des Erotischen wird jedem Indienbesucher verdeutlicht, wenn er die Skulpturen der Hindu-Tempel mit den reichhaltigen Darstellungen der sexuellen Varianten betrachtet. Jedenfalls zeigt das Hindu-Beispiel, dass Religion von sich aus sich durchaus mit dem Eros verbinden kann und dass ein spirituelles Ziel und ein freudvolles Leben keine fundamentalen Gegensätzlichkeiten bilden müssen.

 

In diesem Sinn ist der Weg der Askese, den das Christentum dann propagiert (hat) und den Deschner so akribisch beschrieben hat, dass manchem das Gruseln bei der Lektüre gekommen sein mag, eine Sonderentwicklung. Die anderen Religionen haben es verstanden, das sexuelle Potential für ihre Interessen einzuspannen, wenn man es einmal so instrumentalistisch formulieren mag. Sie haben dies sicher nicht bewusst intendiert, aber diese Religionen hatten mehr Lebensinstinkt und die Intuition, dass der Kampf gegen den Trieb aussichtslos ist und überdies die Energie viel besser zur Erreichung der geistigen Ziele eingesetzt werden kann. Man kann versuchen zu erklären, warum sich das jüdisch-christliche Abendland in diese Ausweglosigkeit verrannt hat, die letztlich die Kirchen in Misskredit gebracht hat und wodurch danach auch die religiösen Gehalte selbst in Zweifel gezogen worden sind. Die Vermutung(23) wurde geäußert, dass die christliche Sündenlehre das Hindernis war, die sexuelle Ekstase mit in die Aufstiegshilfen zur Vergeistigung einzubeziehen. Der erotische Weg erfolgt aus der spontan im Menschen selbst angelegten sexuellen Energie, kann somit als autonomer Weg der Selbstheiligung angesehen werden. Die christliche, speziell dann von Augustinus entworfene Gnadenlehre macht einen solchen autonomen Erlösungsweg unmöglich. Da der Mensch aus augustinischer Sicht "massa damnata", ein verworfenes Geschlecht ist,(24) das aus sich heraus den geistigen Aufstieg niemals schaffen kann, ist auch ein Einsatz der Sexualkraft für die Erlösung aus systematischen Gründen undenkbar. Die asiatischen Religionen konnten umso eher die Sexualität in den spirituellen Aufstiegsweg einbauen, als es dort immer eine Eigenleistung des Individuums war, sich zu höherem Bewusstsein emporzuarbeiten, die Verbesserung des Karmas, der Weg zur Erleuchtung kann immer nur vom einzelnen vollzogen werden, externe Hilfe kann nur in Form von Anleitung erfolgen, nicht über einen transzendenten Gnadenakt. So nimmt es nicht wunder, dass erotische Freude und sexuelle Erregung als Fahrzeuge zu höheren spirituellen Einsichten, als Wegbereiter zu moksha, der Erleuchtung, angesehen werden konnten. Die Dreieinheit von meditativer, drogeninduzierter und sexueller Ekstase ist für die Anhänger asiatischer Religionen viel leichter zu verstehen als für die Vertreter der wortorientierten monotheistischen Buchreligionen.

Letztere hatten ja notorisch Aversionen gegen ekstaseerzeugende Elemente, wie z. B. Musik und Tanz, weil das Wort (Gottes) zu wenig zur Geltung kam. Musik wurde lange Zeit nur in der Form der Monodie geduldet, um das Wort nicht in der Vielstimmigkeit untergehen zu lassen. Erst in der Renaissance-Zeit konnte sich die polyphone Kirchenmusik durchsetzen, die rein an das Gefühl appellierende Instrumentalmusik ist den Klerikern bis zum gegenwärtigen Tage verdächtig.(25) Dabei wären die Kirchenmächtigen gut beraten gewesen, mehr auf die erhebende Wirkung der Musik zu setzen, denn gerade das Wort, das am ehesten das Denken und je nach Vermögen auch das kritische Denken anregt, ist zweifellos der schwächste Teil der Religion. Hier kann sich am ehesten logischer Scharfsinn ein Analyseobjekt aussuchen, nicht gerade zum Vorteil der Gralshüter.

 

Am wenigsten vertrauten die Glaubenswächter dem Tanz, obwohl auch er aufgrund seiner Sprachlosigkeit weniger Angriffslücken geboten hätte, als die für den Verstand doch immer suspekten metaphysischen Spekulationen, die selbst in der Kulminationszeit des christlichen Mittelalters zu heftigen Auseinandersetzungen geführt hatten.(26) Ganz anders im Hinduismus, wo der Tempeltanz einen wesentlichen Bestandteil der Gottesverehrung darstellt, wobei Wert darauf gelegt wird, dass Körperbewegung und Rhythmus der Musik gut koordiniert sind. Gottesdienerinnen (devadasi) leben in Shiva- und Vishnu-Tempeln und führen dort rituelle Tänze auf, die die Liebe der Menschen zu den Göttern ausdrücken. Der Tempelgott kann dabei in seinen sexuellen Rechten von Priestern vertreten werden, wobei die sakrale Vereinigung mit den Yogini metaphysisch durch den Ich-Verlust beider beim Höhepunkt als die Herstellung einer ursprünglichen göttlichen Einheit gedeutet wird. Die tantrischen Sexualrituale können auch von mehreren Paaren, die in einem Kreis (chakra) angeordnet sind, vollzogen werden. Die Grundidee, welche der jüdisch-christlichen Tradition so fremd ist, besteht immer darin, die sexuelle Energie, die bei der Annäherung an den Orgasmus frei wird, zum spirituellen Aufstieg einzusetzen, um, die normale Erfahrungswelt übersteigend, sich der Erlösung zu nähern. Die entscheidende Voraussetzung dabei ist die Vorstellung, dass das erotische Moment dem Göttlichen nicht fremd ist, dass es somit keine ontologische Kluft zwischen einer nur als materiell gedachten Sexualität und einer nur als spirituell vorgestellten Göttlichkeit gibt. Dieser Hiatus konnte in der abendländischen Tradition nie überbrückt werden, mit dem Ergebnis, dass für die Religion wertvolle Impulse verlorengingen und dass die christlichen Kirchen unzählige Menschen in permanenten Zwiespalt und viele ins Unglück gestürzt haben. Zu den unglaublichsten Vorkommnissen gehört der Verkauf der Priesterfrauen und Priesterkinder in die Sklaverei in der historischen Übergangsphase, als man das Zölibat mit Gewalt durchsetzen wollte, aber auf den Widerstand der verheirateten Kleriker stieß.(27) Die Geschichte dieses aussichtlosen Kampfes einer machtbesessenen Ideologie gegen die biologische Basis des Menschen gehört zu den dunkelsten Elementen jener Spezies, die sich das doppelte Epitethon "sapiens" zugelegt hat. Es nimmt nicht wunder, dass bis in die Aufklärung hinein auch die Philosophen, gemeinhin als die Verwalter der Vernunft betrachtet, diese nur mit größter Anstrengung auf die Sexualmoral übertragen konnten.

Selbst I. Kant, im Bereich der Metaphysik zweifelsohne der bedeutendste Protagonist für die Forderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, verteidigt im Bereich der Sexualethik bemerkenswert rückständige Auffassungen,(28) die nicht anders als durch die tradierte Sexualverklemmung erklärt werden können. Nicht nur, dass er jeglichen Liebesgenuss außerhalb des Rechtsvertrages der Ehe ablehnt, auch in bezug auf völlig harmlose Praktiken wie Masturbation reproduziert er die alten Vorurteile von Thomas v. Aquin, der die Sündhaftigkeit der Selbstbefriedigung noch über den Sündengrad des Ehebruchs stellt.(29) Für Kant figuriert die Masturbation unter dem martialischen Terminus der "wollüstigen Selbstschändung", der für sich schon die moralische Verurteilung impliziert, und für Homosexualität verwendet er ebenfalls den klassischen Terminus "crimen carnalis contra naturam", woraus ohne Zweifel die abgrundtiefe Verachtung der kirchlichen Tradition für die gleichgeschlechtliche Liebe hervorgeht. Man muss es schon als bemerkenswert ansehen, dass jemand, der in der theoretischen Vernunft die Bollwerke der scholastischen Metaphysik Gott, Freiheit und Unsterblichkeit mit akribischer begrifflicher Analyse attackiert, sich dann aber gedankenlos an das völlig läppische Masturbationsverbot der kirchlichen Tradition anhängt. Seine Argumentation verankert er an einem überzogenen Personbegriff, mit dessen Würde die Autoerotik unvereinbar sein soll. Es lässt sich zur Entschuldigung Kants auch nicht einfach der Zeitgeist anführen, denn Goethe hatte in bezug auf die Homoerotik völlig andere und von heute aus gesehen modernere Auffassungen, wie Deschner bemerkt.(30) Die gleichgeschlechtliche Beziehung ist übrigens ein Prüfstein für die Deutung des Sexuellen überhaupt. Nach dem christlichen Fortpflanzungsdogma ist die Lust in Tateinheit mit der Erzeugung von Nachkommen zwar bedauerlich und wenig wünschenswert, weil sie an die Ursünde des Stammpaares erinnert, aber doch auch unvermeidbar. Hingegen können beide Formen der gleichgeschlechtlichen sexuellen Aktivität nur dem Vergnügen dienen, da Vermehrung in diesem Fall ausgeschlossen ist. Der reine Hedonismus als Selbstzweck war den meisten im platonisch-christlichen Fahrwasser schwimmenden Philosophen suspekt, weil er ohne Transzendenzbindung rein der diesseitigen säkularen Welt verhaftet bleibt.

Der erste Philosoph, der im 18. Jahrhundert wieder eine explizite hedonistische Ethik – seit Aristippos v. Kyrene in der Antike – vertritt, war LaMettrie. Sein Werk L’art de jouir bricht mit aller Tradition und stellt die reuelose, genussvolle Empfindung wieder in den Mittelpunkt des Erstrebenswerten und nicht mehr die interesselose Pflicht. Unter der erdrückenden Wucht des deutschen Idealismus, der jeder Glücksethik abhold war, konnte sich der Hedonismus nie als gleichwertige Denkalternative durchsetzen. Nur dem englischen Empirismus schien die utilitaristische Ausprägung des Hedonismus akzeptabel. Es ist kein Zufall, dass erst in der Moderne, in der Philosophie des Logischen Empirismus, sich ein Verteidiger einer hedonistischen Ethik und zugleich auch der Homosexualität fand, nämlich Bertrand Russell. Zwar hatte sich schon Jeremy Bentham 1780 in einer eingehenden Analyse mit der Homosexualität befasst und gezeigt, dass vom Standpunkt des Gemeinnutzens niemandem Nachteil oder Schaden durch gleichgeschlechtliche Beziehungen erwachsen kann,(31) er hatte es aber nicht gewagt, zu seiner Zeit diesen Aufsatz zu veröffentlichen und im 19. Jh. war die Sache kein Thema. So konnte B. Russell(32) in seiner progressiven Schrift "Marriage and Morals" 1926 dafür eintreten, dass man die Homophilen gewähren lassen möge, was ihm aber selber wieder zum Schaden gereichte und seine Berufung an das New York State College verhinderte. Der Abwehrkampf der politischen C-Kreise in Deutschland ist trotz Abschaffung des § 175(33) nicht erlahmt und die Offenbarung eines schwulen Mannes oder einer lesbischen Frau in politisch exponierter Stellung gleicht immer noch einem seelischen Kraftakt, dem zweifellos heftige innere Kämpfe vorhergehen, die der Betroffene bzw. das betreffende Paar mit sich austragen muss, wenn es diesen irreversiblen Schritt plant.

Inzwischen hat sich auch die Biologie dieser sexuellen Orientierung angenommen und versucht – jenseits aller moralischer Kasuistik – zu ergründen, wieso sich diese nichtreproduktive Form der sexuellen Partnerschaft über die Jahrmillionen und alle Ethnien hinweg gehalten hat, obwohl diese in bezug auf die differentielle Reproduktion klar benachteiligt ist.(34) Mit Modellen der Verwandtenselektion versucht man zu erklären, warum ein konstanter Prozentsatz in allen Völkern der gleichgeschlechtlichen Orientierung zuneigt. Allerdings nützen diese sachlichen Erklärungen nichts, um die Ideologen der monotheistischen Religionen von der Ablehnung aller homoerotischen Neigungen abzubringen.(35) Speziell der Islam stützt wieder, in jüngster Zeit auch in Europa stärker vertreten, die alten Vorurteile der Tradition und trifft sich mit den überkommenen Verdikten.(36) 

Im Islam wird grundsätzlich die Sexualität positiver bewertet als im Christentum, allerdings ist sie einem strengen Verhaltenskodex unterworfen. Der Grund liegt vermutlich im aktiven Sexualleben Muhammads, der anders als Jesus – zumindest nach der offiziellen Version – intensive lebensweltliche Erfahrungen in dieser Richtung besaß. Auf der anderen Seite wird im Islam die Sexualität grundsätzlich auf die Ehe eingeschränkt, wobei strenge Strafen für Übertretungen für vor- und außereheliche Beziehungen sowie für Ehebruch gelten. In der Schia besteht allerdings auch die Möglichkeit eine Zeitehe einzugehen, wobei diese auch für eine Nacht geschlossen werden kann, womit de facto die Prostitution indirekt approximiert wird. Das innereheliche Regelsystem kennt auch Koitusverbote und Reinigungsrituale, insgesamt kann man also nicht davon sprechen, dass der Islam die Sexualität ins Belieben des einzelnen stellt, wie dies von einem modernen liberalen Standpunkt aus zu fordern wäre. Inakzeptabel ist sicher aus heutiger Perspektive das vollständige Verbot homosexueller Handlungen – bei Verheirateten, z. B. mit Todesstrafe bedroht – sowie das Verbot der Kontrazeption. Obwohl manche islamische Kulturen eine bedeutende erotische Literatur hervorgebracht haben, wie z. B. "Der duftende Garten des Scheich Nefzavi", was darauf zurückgeht, dass in der Schia kein Bildverbot besteht, sind erotische Darstellungen in den heutigen islamischen Gesellschaften überwiegend verboten. Zu den vom liberalen Gesichtspunkt unannehmbaren Zügen islamischer Sexualpolitik gehört die Zwangsheirat, die zwar nach Artikel 16 der UN-Menschenrechtskonvention von 1948 verboten ist, aber in einem Teil islamischer Gesellschaften noch üblich ist.(37) 

Deschners Standardwerk ist vor 30 Jahren erstmals erschienen und man kann fragen, ob in den "kasuistischen Fragen" (Kant) sich etwas zum Besseren, Liberalerem bewegt hat. Einmal haben die Groß-Kirchen in den vergangenen Jahrzehnten weiter an Mitgliedern und damit auch an Einfluss verloren. Maßgebend hierfür waren sicher die eindruckvollen Sexualskandale des Klerus in Österreich und besonders in den USA, die sich wie ein Fortsetzungsroman zu Deschners seinerzeitigen Schilderungen lesen. Es zeigte sich mit prognostizierbarer Deutlichkeit, dass der Sexus sich allen repressiven Maßnahmen widersetzt und sich im Notfall höchst ungewöhnliche Ventile sucht. Speziell in bezug auf die gleichgeschlechtliche Orientierung scheint sich herauszustellen, dass der Priesterberuf ein Attraktor für Personen mit homoerotischen und päderastischen Neigungen bildet. Der Klerus stellt somit ein Sammelbecken dar für Leute, die von sich aus nicht von der Liebe zu Jesus, sondern zu Gleichgesinnten und Knaben beseelt sind. Da in der reinen klerikalen Männergesellschaft die raumzeitliche Nähe von Männern und Knaben weniger auffällt als die Anwesenheit von Frauen, lassen sich die Neigungen viel eher verbergen. Von der äußeren säkularen Warte betrachtet, wären die homoerotischen Beziehungen und die päderastischen Verhältnisse mit ausreichend alten Jugendlichen harmlos, wenn nicht die extreme Diskrepanz zwischen den überkommenen kirchlichen Verurteilungen dieser sexuellen Varianten und dem tatsächlichen Verhalten existierte. Wenn man zuerst speziell Jugendliche, die sich noch nicht ausreichend weltanschaulich verselbständigt haben, mit den traditionellen Verboten traktiert und sie dann in erotisch angespannter Lage homosexuellen Verführungen aussetzt, erzeugt man in diesen jungen Menschen eine nicht zu bewältigende moralische Spannung, die bei den meisten über ihre psychischen Kräfte geht. Das Unrecht besteht also nicht in den ungewöhnlichen Sexualpraktiken, sondern in der Diskrepanz zwischen Lehre und Triebrealität, mit der die Kleriker nicht fertig werden. Zu den abscheulichen Seiten verdeckter Klerikal-Sexualität gehört das erst jüngst in seiner vollen Breite aufgedeckte Umgehen mit Priesterkindern.(38) Hier kann auch mit aller Deutlichkeit die Widersprüchlichkeit der christlichen praktizierten Moral studiert werden: Die heimlichen Geliebten von Priestern und noch mehr die aus solchen verbotenen Beziehungen entstandenen Kinder, werden von der Kirche und den Klöstern, wenn es sich um Mönche handelt, mit rücksichtloser Lieblosigkeit behandelt, bei der nur die Schonung der eigenen Finanzen und das Bild in der Öffentlichkeit eine Rolle spielen, Nächstenliebe und Fürsorge für die verlassenen Frauen und ihre Kinder, die immer wieder beschworenen jesuanischen Tugenden werden in keiner Weise aktiviert. Diese Haltung gegenüber den Folgen sexueller "Sünden" passt in das Bild, das Deschner von der langen Geschichte der christlichen Liebe gezeichnet hat. Wir werden sicher noch lange damit leben müssen.


Anmerkungen:

(1) K. Deschner: Das Kreuz mit der Kirche. Eine Sexualgeschichte des Christentums. Düsseldorf 1974.

(2) E. Voland (Hrsg.): Evolution und Anpassung. Stuttgart 1993.

(3) E. u. G. Rotter: Venus Maria Fatima. Wie die Lust zum Teufel ging. Zürich 1996, S. 20 f.

(4) G. J. Bellinger: Sexualität in den Religionen der Welt. Frechen 1999, S. 106 ff.

(5) Hesiod: Theogonie.

(6) Homer: Odysee VIII, S. 267-366.

(7) Platon: Symposion 184 e.

(8) Euripides fr. 431.

(9) Athenaios XIII, 607 c.

(10) Bellinger a.a.O., S. 130.

(11) Bellinger a.a.O., S. 345

(12) Levitikus 20, 14a.

(13) H. Cancik: Gleichheit und Freiheit. Die antiken Grundlagen der Menschenrechte. In: Ders: Antik Modern, S. 293-315.

(14) U. Ranke-Heinemann: Eunuchen für das Himmelreich. Katholische Kirche und Sexualität. Hamburg 1988, S. 48.

(15) Lk. 7, 47; Jh. 8, 3 ff.

(16) 2. Mose, 20, 14.

(17) Mat. 5, 27.

(18) Mat. 15, 17-20.

(19) G. Streminger: Eine Kritik der christlichen Ethik. Aufklärung und Kritik 1 (1999), S. 3-27.

(20) Mat. 15-20.

(21) C. Cancik: Zur Entstehung der christlichen Sexualmoral. In: A. K. Siems: Sexualität und Erotik in der Antike. WBG 1994, S. 347-374.

(22) Xenophon: Memorabilien III, 11.

(23) Bellinger, a.a.O., S. 202.

(24) K. Flasch: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo – Die Gnadenlehre von 397. excerpta classica Bd VIII, Mainz 1990.

(25) F. J. Wetz: Die Magie der Musik. Warum uns Töne trösten. Stuttgart 2004, S. 148.

(26) G. Minois: Geschichte des Atheismus. Weimar 2000, S. 68.

(27) Deschner a.a.O., S. 158 ff.

(28) I. Kant: Metaphysik der Sitten: Tugendlehre 1, Teil § 7.

(29) B. Kanitscheider (Hrsg.): Liebe, Lust und Leidenschaft. Sexualität im Spiegel der Wissenschaft. Stuttgart 1998.

(30) G. Frankenberg: Johann Wolfgang v. Goethe. In: Deschner (Hrsg.): Das Christentum im Urteil seiner Gegner I, 1969, S. 153 ff.

(31) J. Bentham: An Essay on "Paederasty", In: R. Baker/F. Elliston: Philosophy and Sex. New York 19842, S. 359-369.

(32) B. Russell: Warum ich kein Christ bin. München 1963, S. 228.

(33) In Deutschland im Jahre 1974, vollständige Beseitigung der rechtlichen Sonderbehandlung der Homosexualität erst 1994.

(34) V. Sommer: Wider die Natur? Homosexualität und Evolution. München 2000.

(35) Huntemann: Biblisches Ethos im Zeitalter der Moralrevolution. Stuttgart 1995, S. 451.

(36) G. Kepel: Die Rache Gottes. Radikale Moslems, Christen und Juden auf dem Vormarsch. München 1991, S. 32 ff.

(37) Vgl. dazu Artikel "Islam" in St. Dressler/Ch. Zink. Pschyrembel Wörterbuch der Sexualität. Berlin 2003, S. 249.

(38) A. Bruhns/P. Wensierski: Gottes heimliche Kinder. Töchter und Söhne von Priestern erzählen ihr Schicksal. Hamburg 2004.



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