Dr. Helmut F. Kaplan

Gibt es eine ethische Weltformel?

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, 2/2004, S. 224-226

 

"Ethik ist praktisch, oder sie ist nicht wirklich ethisch", schreibt Peter Singer in seinem Buch "Wie sollen wir leben?"(1) sehr richtig. Eine Ethik, die wirksam sein soll, das heißt eine Ethik, die die Menschen verstehen und praktizieren können sollen, muß praktisch, das heißt einfach sein. Müßte einfach sein, muß man leider sagen. Denn die Realität sieht leider ganz anders aus: In Ethikbüchern und Ethikseminaren ist von einfachen ethischen Konzepten und praktikablen ethischen Regeln keine Spur. Was hier an spitzfindigem Stumpfsinn produziert wird, ist schlicht katastrophal.

Was wir brauchen, sind nicht unverständliche Theorien, sondern einfache, verständliche, praktikable Regeln – "Leitplanken für die Moral", wie Hans Küng(2) sagt. Und solche moralische Leitplanken existieren ja durchaus auch – etwa in Form der Zehn Gebote.

Vielleicht gibt es darüber hinaus aber auch noch so etwas wie eine "ethische Weltformel", eine einzige Regel, die die Essenz aller Moral zusammenfaßt und ausdrückt und die für jeden verstehbar und nachvollziehbar ist.

Bevor wir uns näher mit einer solchen möglichen ethischen Weltformel befassen, sollten wir uns sinnvollerweise über deren "Vorbild", der physikalischen Weltformel, etwas näher informieren. Diese physikalische Weltformel sollte, das ist das ehrgeizige Ziel der Physiker, nicht weniger leisten, als alles Wissen über die Materie in einer Formel zu erfassen.(3)

"Es ist der Glaube an die Existenz dieser Weltformel, der die theoretische Physik beseelt. Genährt wird er durch die spektakulären Erfolge der Vergangenheit. War es nicht ... Newton ... gelungen, alles Wissen über die Planetenbahnen in eine einzige Gleichung zu bannen ...? Hatte nicht ... Maxwell ... später sämtliche elektrischen und magnetischen Phänomene in einem einfachen Regelwerk von Formeln vereint ...?"(4)

Diese Tendenz in Richtung Einfachheit setzte sich auch im zwanzigsten Jahrhundert fort. Der Mikrokosmos konnte mit immer weniger Gleichungen immer vollständiger erklärt werden.(5) Der Physik-Nobelpreisträger Steven Weinberg ist zuversichtlich: "Mein Glaube an eine endgültige Theorie beruht ... darauf, daß unser Bild der Natur immer einfacher geworden ist. Als Student mußte ich noch eine Fülle von Fakten über Kräfte und Teilchen lernen, die nichts als Fakten waren .... Niemand konnte erklären, warum es all diese Teilchen gab. Inzwischen wissen wir, wie all das auf einfache Weise zusammenhängt. ( ... ) Und Fortschritt in Richtung auf Einfachheit muß irgendwann zu einem Ende kommen. Es stellt sich unweigerlich das Gefühl ein, daß Sie sich einem Endpunkt nähern, der nicht mehr einfacher sein kann."(6)

Im Gegensatz zur gesuchten physikalischen Weltformel ist die ethische Weltformel in Wirklichkeit längst gefunden! Auch wenn sie kaum akzeptiert wird (weil sie von der akademischen Ethik als zu einfach diffamiert wird) und auch wenn sie nur wenig praktiziert wird (weil die Menschen es vorziehen, egoistisch zu leben). Die ethische Weltformel ist nichts anderes als die Goldene Regel, jene Regel, die im altindischen Nationalepos Mahabharata als die Summe der Gerechtigkeit, von Charles Darwin als die Grundlage der Sittlichkeit und von Erik H. Erikson als der geheimnisvolle Treffpunkt alter Völker bezeichnet wird: "Was du nicht willst, daß man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu." Oder: "Behandle andere so, wie du auch von ihnen behandelt sein willst."

Die Goldene Regel finden wir sowohl in der hinduistischen und chinesischen als auch in der jüdischen, christlichen und islamischen Ethik. Ihre Verbreitung und (theoretische) Akzeptanz kennt offenbar weder zeitliche noch örtliche Grenzen. Diese Wertschätzung beruht zum Teil wohl auch auf dem Vorkommen der Goldenen Regel im Neuen Testament sowie auf ihrer Ähnlichkeit zum Gebot "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst".

Kritisiert wird an der Goldenen Regel – unter anderem – aber immer wieder, daß sie nicht berücksichtige, daß unterschiedliche Menschen unterschiedliche Interessen haben. Dies führe, so der Vorwurf, dazu, daß die Befolgung der Goldenen Regel absurde Konsequenzen zeitige:

"Wörtlich genommen, fordert die Regel einen Masochisten auf, ein Sadist zu werden: jemandem, der gerne von anderen gequält werden möchte, wird befohlen, andere zu quälen."(7)

"Wer zu stolz ist, sich helfen zu lassen, dürfte anderen nicht helfen."(8)

"Der Abstinenzler könnte voller Freude universal vorschreiben, niemand solle Wein oder Bier trinken."(9)

Zum Einwand, daß die Goldene Regel nicht berücksichtige, daß die Menschen unterschiedliche Interessen und Wünsche haben, ist folgendes zu sagen: Erstens unterscheiden sich die Menschen im Hinblick auf die grundlegenden Interessen und Wünsche kaum von einander: Wer will schon belogen, betrogen, beleidigt oder gequält werden! Der Masochist ist zweifellos eine seltene Ausnahme.

Zweitens und vor allem aber: Wo sich die Menschen in ihren Interessen und Wünschen unterscheiden, da berücksichtigen wir dies bei der Anwendung der Goldenen Regel ohnehin automatisch, da alles andere dem Geist der Goldenen Regel aufs gröbste widersprechen würde!

Vor die Frage gestellt, ob ich einem Behinderten beim Überqueren der Straße helfen sollte, ist mein Gedankengang doch nicht: Da ich selbst nicht behindert bin und so weiter, sondern: Wenn ich jetzt an seiner Stelle wäre, würde ich mir wünschen, daß mir geholfen wird!

Oder: Wenn ich jemandem mit einer Einladung zum Essen eine Freude bereiten möchte, serviere ich natürlich nicht meine, sondern seine Lieblingsspeise!

Kurz: Bei der Anwendung der Goldenen Regel geht es selbstverständlich nicht darum, dem anderen die eigenen Wünsche aufzuzwingen, sondern darum, die Wünsche des anderen zu berücksichtigen. Sinnvoll und akzeptabel ist deshalb natürlich ausschließlich jenes Verständnis der Goldenen Regel, bei dem man "seinen Mitmenschen nicht seine eigenen, sondern ihre eigenen Wünsche, Interessen und Bedürfnisse unterstellt. ( ... ) Die Frage darf also nicht lauten: ‘Wie würde ich, mit all meinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?‘, sondern vielmehr: ‘Wie würde ich, mit all seinen Eigenschaften, an seiner Stelle behandelt werden wollen?‘"(10)

Folgerichtig schlägt Hans-Ulrich Hoche(11) folgende Fassung der Goldenen Regel vor: "Behandle jedermann so, wie du selbst an seiner Stelle wünschtest behandelt zu werden."

Diese Regel ist für alle, die moralisch handeln wollen, ein ganz hervorragendes und in seiner Wirksamkeit kaum zu überbietendes Mittel, um diese Welt zu einem schöneren, besseren und glücklicheren Ort zu machen!

Das heißt selbstverständlich nicht, daß sich bei der Anwendung der Goldenen Regel keine Probleme ergeben können. Natürlich kann es auch hier, wie dies beim moralisch motivierten Handeln oft der Fall ist, zu lebhaften Diskussionen, unterschiedlichen Interpretationen und schmerzlichen Konflikten kommen. Aber:

1) Dies gilt für alle moralischen Prinzipien, die hinreichend einfach sind, um praktikabel zu sein.

2) Dies ändert nichts daran, daß die Goldene Regel in den meisten real vorkommenden Situationen ganz ausgezeichnet funktioniert.

3) Eine einfache Regel, die in der Praxis meistens funktioniert, ist unendlich wertvoller als eine Ethik, die vielleicht theoretisch immer funktioniert (das heißt alle denkbaren Fälle abdeckt), die aber dafür so kompliziert und unverständlich ist, daß sie von niemandem verstanden und daher auch von niemandem praktiziert wird.

4) Die meisten Probleme bei der Anwendung der Goldenen Regel treten – wie bei anderen moralischen Prinzipien auch – dann auf, wenn sich die Betroffenen absichtlich dumm stellen, daß heißt, wenn sie sie mißverstehen wollen.

5) Ich selbst habe im konkreten zwischenmenschlichen Umgang noch niemals erlebt, daß die ehrliche und ernsthafte Anwendung der Goldenen Regel nicht möglich gewesen wäre oder zu einem Ergebnis geführt hätte, das ihrem Geist widersprochen hätte.

Durch die Charakterisierung der Goldenen Regel als ethische Weltformel sollen andere ethische Ansätze freilich nicht mit einem Denk- oder Praktizierverbot versehen werden. Die Goldene Regel soll aber als so etwas wie eine Leitregel betrachtet werden. Das heißt, daß andere oder weiterführende Ansätze oder Überlegungen üblicherweise erst in Betracht gezogen werden sollen, wenn die Goldene Regel nicht mehr greift.

Wenn alle Menschen die Goldene Regel konsequent anwenden würden, wären mit einem Schlag 99 Prozent aller Übel, die sich durch moralisches Handeln beseitigen lassen, beseitigt.



Anmerkungen:

(1) Erlangen: Fischer, 1996, S. 194.

(2) In einem Spiegel-Interview (Nr. 51, 1999, S. 70).

(3) Johann Grolle: Symphonie der Superstrings, Der Spiegel, 30, 1999, S. 182.

(4) Ebenda, S. 183.

(5) Ebenda.

(6) In einem Spiegel-Interview (Nr. 30, 1999, S. 192).

(7) Marcus G. Singer: Verallgemeinerung in der Ethik. Frankfurt: Suhrkamp, 1975, S. 37.

(8) Otfried Höffe: Goldene Regel. In: ders. (Hrsg.): Lexikon der Ethik. München: Beck, 1986, S. 93.

(9) John L. Mackie: Ethik: Stuttgart: Reclam, 1983, S. 113.

(10) Hans-Ulrich Hoche: Die Goldene Regel, Zeitschrift für Philosophische Forschung, 32, 1978, S. 361.

(11) Ebenda, S. 358.

Dieser Text ist ein leicht veränderter Abschnitt aus dem soeben erschienen Buch "Die Ethische Weltformel" von Helmut F. Kaplan (Vegi-Verlag, 2003, S. 69 ff.).

Helmut F. Kaplan ist Philosoph und Autor und beschäftigt sich vor allem mit ethischen Fragen im Hinblick auf unseren Umgang mit Tieren. In nächster Zeit wird von ihm erscheinen: "Freude, schöner Götterfunken – Glück zwischen Schmerz und Tod." Der Publikationstermin wird auf der Internetseite www.tierrechte-kaplan.org bekanntgegeben werden. Hier finden sich auch umfangreiche weitere Informationen zur Arbeit und Person des Autors.



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