Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Leitkultur Humanismus und Aufklärung

Über die notwendige Begrenzung
der weltanschaulichen Neutralität des Staates

Vortrag ("Leitkultur Humanismus und Aufklärung", Köln, 2.10.05;
"Offene Universität", Gelsenkirchen, 3.10.05)

 

"Leitkultur" ist ein politisches Reizwort. 1996 wurde der Begriff vom Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi geprägt, der darunter einen Wertekonsens basierend auf den Errungenschaften der "kulturellen Moderne" verstand (also dem Primat der Vernunft, der Trennung von Religion und Politik, der Demokratie, des Pluralismus und der Toleranz). Tibis Definition wurde Ende der Neunziger Jahre zwar vereinzelt rezipiert, es entwickelte sich daraus aber keine größere gesellschaftliche Debatte. Dies änderte sich allerdings schlagartig, als im Oktober 2000 der damalige Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Friedrich Merz mit dem Schlagwort der "freiheitlich-demokratischen, deutschen Leitkultur" in die Auseinandersetzungen über die Änderung des Einwanderungsrechts eingriff. Merz wandte sich entschieden gegen den "multikulturellen Ansatz" der rot-grünen Bundesregierung, der seiner Meinung nach Parallelgesellschaften heraufprovoziere, und forderte nachdrücklich, dass sich Zuwanderer, die in Deutschland leben wollen, notwendigerweise der "deutschen Leitkultur" anpassen müssten.

Damit war eine Kontroverse eröffnet, die – man denke an die Diskussionen zum EUBeitritt der Türkei, an die Kopftuch-Debatte oder die Auseinandersetzungen um Ehrenmorde und Parallelgesellschaften in Deutschland – noch immer nicht abgeklungen ist. Das liegt nicht zuletzt daran, dass es bis heute keinen Konsens in der Beantwortung der grundlegenden Fragen gibt: Brauchen pluralistische Gesellschaften denn tatsächlich so etwas wie einen verbindlichen Wertekanon? Ist ein Plädoyer für Leitkultur (welcher Ausprägung auch immer) nicht zugleich auch ein Plädoyer wider die Toleranz? Ist überhaupt eine Form von Leitkultur denkbar, die sich einerseits entschieden gegen freiheitsgefährdende, inhumane Strömungen zur Wehr setzt, die aber andererseits zugleich auch offen ist gegenüber den vielfältigen, unterschiedlichen Lebensentwürfen der Menschen in einer pluralen Gesellschaft?

Wie der Titel meines Vortrags nahe legt, möchte ich hier für eine bestimmte Form von Leitkultur werben, nämlich für die Leitkultur Humanismus und Aufklärung. Diese ist durchaus verwandt mit Tibis "europäischer Leitkultur", es gibt jedoch auch beträchtliche Unterschiede. Zum einen nämlich möchte ich Humanismus und Aufklärung keineswegs als bloß europäische Traditionen verstanden wissen, schließlich gab es in allen Ländern, auf allen Kontinenten und auch zu allen Zeiten Menschen, die sich für eine humanere, aufgeklärtere Sicht der Welt eingesetzt haben. Zum anderen ist die Leitkultur Humanismus und Aufklärung inhaltlich schärfer akzentuiert als Tibis Konzept. Sie beruht nicht auf einer diffusen "europäischen Identität", sondern auf jenen klar benennbaren Traditionen in Wissenschaft, Philosophie und Kunst, die die Menschheit in ihrer kulturellen Evolution trotz aller Widerstände in Richtung Freiheit und Chancengleichheit vorangebracht haben.

Ich werde hier darauf verzichten, diese großartige Tradition von Humanismus und Aufklärung in ihrem ganzen Umfang zu skizzieren (siehe hierzu das von mir unlängst vorgelegte "Manifest des evolutionären Humanismus"). Stattdessen werde ich mich auf eine Frage konzentrieren, die für die kulturpolitische Auseinandersetzung unserer Tage von besonderem Interesse sein könnte, nämlich die Frage, was man heute unter "weltanschaulicher Neutralität des Staates" sinnvollerweise verstehen sollte und ob die Idee einer humanistisch-aufklärerischen Leitkultur mit diesem Konzept der zu vereinbaren ist.

Zur Herangehensweise: Ich werde zunächst die Ausgangssituation der Leitkultur-Debatte erörtern, genauer: jene seltsame Mixtur aus Multikulti-Illusionen und christlich-abendländischer Deutschtümelei, die m.E. zu einer Verschärfung des Problems der Parallelgesellschaften geführt hat. Im zweiten Teil werde ich mich unter dem Motto "Wer für alles offen ist, ist auch nicht ganz dicht" mit der notwendigen Beschränkung des Konzepts der weltanschaulichen Neutralität beschäftigen. Im dritten Teil werde ich aufzeigen, was die Leitkultur Humanismus und Aufklärung für die religionspolitische Praxis bedeutet, was ich dann im vierten Teil anhand einiger Grafiken zum Verhältnis von Staat und Weltanschauung illustrieren möchte. Abschließend wird es dann um die Frage gehen, ob die Idee einer humanistisch-aufklärerischen Leitkultur ein idealistisches Luftschloss ist oder ob sie mittel- und langfristig vielleicht doch Bevölkerungsmehrheiten finden könnte.

1. Multikulti-Illusionen und "deutsche Leitkultur" - ein Musterbeispiel "deutscher Wertarbeit"

Während konservative Politiker bis heute damit fortfahren, die "Werte des christlichen Abendlandes" einzuklagen, und mitunter sogar – wie der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU, Christoph Böhr – zum Kulturkampf gegen "gott- und vaterlandslose Gesellen" aufrufen, träumen andere, scheinbar progressive Entscheidungsträger noch immer von der "multikulturellen Gesellschaft", wobei sie hartnäckig die Augen davor verschließen, dass dieses Projekt in der Praxis schon heute hoffnungslos gescheitert ist.

Multikulti-Illusionen haben lange Zeit den Blick dafür getrübt, dass sich auch hierzulande religiöse Parallelgesellschaften herausgebildet haben, die es darauf anlegen, selbst die fundamentalsten rechtstaatlichen Prinzipien zu negieren. Man denke beispielsweise an den dogmatischen, evangelikalen Puritanismus russlanddeutscher Aussiedler oder an die zunehmenden islamistischen Abschottungstendenzen innerhalb der türkischen Migrantenszene.

Um nicht in den Verdacht der Ausländerfeindlichkeit zu geraten, trauten sich gerade in Deutschland nur wenige Experten, auf die Gefahren eines fortschreitenden Fundamentalismus beispielsweise innerhalb türkischer Bevölkerungsgruppen hinzuweisen. Wer sich als politisch progressiv verstand (und den "Gauweilers" der Republik keine zusätzliche Munition liefern wollte), pries lieber das "Abenteuer der kulturellen Vielfalt", die enorme Bereicherung durch das "Fremde" – und hatte damit zweifellos auch Recht. (Wer lebt schon gern "allein unter Deutschen"?! Zwei Wochen Pauschal-Urlaub auf Mallorca sollten jeden eines Besseren belehren…).

Allerdings: Im Zuge dieser einfältigen Vielfaltlobhudelei wurde sträflichst übersehen, dass man mit der türkischen Community nicht nur Kebab, Bauchtanz, orientalische Musik, Kunst und Lyrik importierte, sondern auch die ideologischen Keimlinge einer Religion, die weit weniger als das europäische Christentum gezwungen war, durch die Dompteurschule der Aufklärung zu gehen. Wenn wir heute vor dem Scherbenhaufen einer gescheiterten Integrationspolitik stehen, dann nicht zuletzt deshalb, weil die demokratiefeindlichen Potentiale der Religionen (hier: insbesondere des Islam!) maßlos unterschätzt wurden.

Statt die Politik konsequent am aufklärerischen Leitbild des säkularen Staates auszurichten, war die Diskussion von zwei konträren Positionen geprägt, die als "ausländerpolitisches Kombipack" dafür sorgten, dass die Saat des Islamismus auf deutschem Boden hervorragend gedeihen konnte – ein wunderbares Beispiel für "deutsche Wertarbeit": Während der absurde Zwang zur Anpassung an eine "deutsche (christliche) Leitkultur" die Migrantenfamilien noch stärker in die kulturelle Isolation trieb, schuf die multikulturelle Beschwichtigungspolitik, die jede Form der Islamkritik als "Kulturimperialismus" missdeutete, die Freiräume für eine ungehemmte Islamisierung innerhalb der von westlichen Einflüssen weitgehend abgeschirmten Migrantenszene.

Sämtliche Studien, die sich mit dem Thema eingehender beschäftigten, haben gezeigt, dass die optimistische Erwartung, dass sich die Menschen schon automatisch zu Demokraten entwickeln würden, wenn man ihnen rechtsstaatlich garantierte Grundrechte einräumt, hoffnungslos naiv war. Es ist an der Zeit, aus dieser Erkenntnis die richtigen politischen Schlüsse zu ziehen. Das Erlassen von Gesetzen, die die Ausübung der Religionsfreiheit bzw. das Ausleben kultureller Traditionen dort rigoros begrenzen, wo sie mit rechtsstaatlichen Prinzipien kollidieren (Beispiel: Zwangsheirat), ist in diesem Kontext zwar ein notwendiger, aber noch kein hinreichender Schritt. Gerade im Bildungsbereich müssten neue Wege gegangen werden. So bräuchten wir statt der von den Grünen geforderten "flächendeckenden Einführung des Islamunterrichts" die Einführung eines für alle SchülerInnen verbindlichen Ethik- und Religionskundeunterrichts. Denn wenn Klein-Erna mit Segen des Staates von Vertretern der katholischen Kirche, Klein-Mehmet von Muslimen, Klein-Philipp von Zeugen Jehovas etc. fürs Leben geschult werden, so entsteht darüber keine weltanschauliche Vielfalt, sondern bloß potenzierte Einfalt.

Insofern ist die 2005 getroffene Entscheidung des Berliner Senats, einen für alle Schülerinnen und Schüler verbindlichen Werte- und Religionskundeunterricht in den Lehrplan aufzunehmen, nur zu begrüßen. Offensichtlich haben die Verantwortlichen der Berliner Landespolitik den Mut gehabt, die richtigen Schlüsse aus den zunehmenden inter- und innerkulturellen Konflikten zu ziehen. Dass sie dafür von den Großkirchen und der Mehrheit des politischen Establishments in Deutschland Prügel beziehen würden, war kaum anders zu erwarten.

Interessanterweise wurde in der heftig geführten Debatte um den Berliner Werteunterricht von Kritikern immer wieder ins Spiel gebracht, der zu "religiösweltanschaulicher Neutralität" verpflichtete Staat habe kein Recht, selber aktiv Werte zu vermitteln. Dies müsse er, so wurde behauptet, den religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften überlassen. Was ist von dieser Position zu halten?

2. "Wer für alles offen ist – ist auch nicht ganz dicht": Die notwendige Begrenzung der weltanschaulichen Neutralität des Staates

Es wäre ein Fehler, würde man die in der deutschen Verfassung verankerte Forderung nach einer weltanschaulichen Neutralität des Staates als Verpflichtung zu staatlicher Wertindifferenz deuten. Das Gemeinwesen der Bürger beruht nämlich auf klar benennbaren Verfassungswerten, die als Minimalkonsens das Zusammenleben der Menschen regeln sollen (den Grundrechten, der Gewaltenteilung, der richterlichen Unabhängigkeit, dem Sozialstaatsprinzip, dem Schutz für Verfolgte usw.). Diese Gesichtspunkte zusammengenommen ergeben, so hat es Gerhard Czermak einmal formuliert, "die Grundstruktur einer auf inhaltlichen Werten beruhenden Verfassungsordnung (…) Selbstverständlich können und sollen die Erziehungseinrichtungen diese verfassungsrechtlichen Grundvorgaben, den notwendigen Grundkonsens, auch als verbindlich vermitteln, denn es geht um die Basis des friedlichen und gerechten Zusammenlebens in der Gesellschaft. Mit dieser ‘Doktrin’ darf Schule also ‘indoktrinieren’."

Demnach darf der Staat sehr wohl aktiv Werte vermitteln, ja er ist sogar dazu verpflichtet, will er seine eigene Verfasstheit (und damit die Grundrechte der Bürger) gegen freiheitsfeindliche Angriffe schützen. Nicht ohne Grund finden die in der Verfassung verankerten Freiheitsgarantien (u. a. Religionsfreiheit, Freiheit der Kunst, der Wissenschaft und der Meinungsbildung) dort ihre Grenzen, wo die Prinzipien der Verfassung sowie der untergeordneten Gesetzessammlungen verletzt werden.

Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates (d. h. seine Verpflichtung zur Gleichbehandlung religiös-weltanschaulicher Gruppen) wird spätestens dort aufgehoben, wo solche Gruppierungen im Widerspruch zu den ethischen Grundanforderungen der Verfassung stehen. Anders gewendet: Je eher eine religiöse oder weltanschauliche Gruppierung den Verfassungswerten entspricht, desto eher wird ihr die Verfasstheit des Staates als "weltanschaulich neutral" erscheinen, je weiter sie von den Verfassungswerten entfernt ist, desto eher wird sie diese als parteiliche (keineswegs neutrale!) Staatsideologie begreifen und notwendigerweise mit ihr kollidieren.

Neben dieser ethischen Begrenzung der Weltanschauungsneutralität ist (vor allem) im Bildungsbereich ein weiterer Aspekt zu beachten, der zwar in der Debatte regelmäßig übersehen wird, in der Praxis aber von großer Bedeutung ist: Die Lernziele und Lehrpläne der Schulen werden nicht nur vom Ethos der Verfassung beeinflusst, sondern vor allem vom Forschungsstand der jeweiligen Fachdisziplinen. Lehrpläne, Schulbücher etc. müssen wissenschaftlichen Wahrheitswerten genügen. Aussagen, die logischer / empirischer Überprüfung nicht standhalten können, haben im Curriculum der öffentlichen Schulen nichts verloren. Nur deshalb kann ein Kreationist nicht einklagen, dass die Schöpfungslehre im Biologieunterricht behandelt werden sollte.

Selbstverständlich verhalten sich die Länder, die für Bildung hauptsächlich verantwortlich sind, keineswegs "weltanschaulich neutral", wenn sie die Evolutionstheorie als ernst zu nehmenden Ansatz privilegieren und kreationistische Theorien ausblenden. Würden sie aber hinreichend widerlegte Ansichten nur aus dem Grund in den Lehrplan aufnehmen, weil bestimmte Gruppen dies ansonsten als "Diskriminierung" betrachten würden, so hätte dies (wie in den USA) eine schwerwiegende Aushöhlung des Bildungsbegriffs zur Folge. Die unkritische Vermittlung von Behauptungen, die erwiesenermaßen falsch sind, ist nämlich gerade das Gegenteil von Bildung, ist "Verbildung", ist Manipulation – auch wenn bestimmte Gruppen sich durch die fehlende Berücksichtigung ihrer weltanschaulichen Irrtümer benachteiligt fühlen mögen.

Halten wir fest: Zwar ist die "weltanschauliche Neutralität" des Staates ein zentrales Verfassungsgut, da nur ein Staat, der seinen Bürgern nicht in umfassendem Sinne vorschreibt, was sie zu denken oder zu glauben haben, bürgerliche Freiheiten gewährleisten kann. Und doch ist das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität des Staates über weite Strecken bloße Fiktion. Die weltanschauliche Neutralität nämlich ist, wie wir gesehen haben, notwendigerweise zweifach beschränkt…

  • erstens durch die ethischen Prinzipien der Verfassung (wenn eine religiöse Gruppierung gegen die Gleichberechtigung von Mann und Frau, z. B. Zwangsheirat, oder aber gegen den Schutz der Tierwelt verstößt, kann und darf der Staat sich dazu nicht neutral verhalten);
  • zweitens durch die Verpflichtung des Staates und der Länder zur Förderung seriöser Bildung, die sich nach soliden wissenschaftlichen Wahrheitskriterien richten muss und nicht nach den Partikularinteressen bestimmter religiösweltanschaulicher Gruppierungen (Beispiel: Wenn eine religiöse Gruppe gegen den Sexualkundeunterricht agitiert oder homosexuelle Handlungen als "unnatürlich" dargestellt wissen will, so können sich Staat und Länder als Träger oder Aufsichtsagenturen der Bildung hierzu nicht neutral verhalten, denn zum einen wird ohne gründliche Erörterung des Themas Sexualität weder das menschliche Verhalten noch die Evolution des Lebendigen als Ganzes verständlich, zum anderen sind homosexuelle Verhaltensweisen selbstverständlich nicht "unnatürlich", da sie sich erwiesenermaßen im gesamten Tierreich finden lassen).

Das heißt: "Weltanschaulich neutral" kann sich der Staat nur dort verhalten, wo weder die humanistischen, auf den Menschenrechten beruhenden ethischen Prinzipien des Grundgesetzes noch die Seriosität des Bildungsauftrags auf dem Spiel stehen. Anders formuliert: Das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität steht und fällt mit der Akzeptanz jener Leitkultur, auf der jeder moderne Rechtsstaat gründen muss. Diese Leitkultur ist weder national noch religiös geprägt, sondern international verankert und im Kern säkular ausgerichtet. Es handelt sich hierbei um die leidlich verdrängte, aber doch im Hintergrund ungeheuer wirkmächtige Leitkultur von Humanismus und Aufklärung – eine Leitkultur, die heutzutage viel stärkere Beachtung finden sollte, da nur sie allein in der Lage ist, jenen zeitgemäßen Grundkonsens zu definieren, auf dem sich ein fruchtbarer gesellschaftlicher Pluralismus überhaupt entfalten kann.

3. Was bedeutet das Plädoyer für die "Leitkultur Humanismus und Aufklärung" in der religionspolitischen Praxis?

Wer von der Leitkultur Humanismus und Aufklärung ausgeht, für den ist Religion Privatsache. Es sollte klar sein, dass jeder Mensch glauben darf, was er will, schließlich sind die Gedanken frei – auch frei zur Unvernunft. Wer auch heute noch hinreichend widerlegten, archaischen Mythen Glauben schenken möchte, darf dies selbstverständlich tun. Nur sollte dies im 21. Jahrhundert keine Auswirkungen mehr auf die Politik haben. In der öffentlichen politischen Diskussion müssen notwendigerweise weltliche Standards gelten – und zwar (in ethischer Hinsicht) die humanistische Orientierung an den Selbstbestimmungsrechten des Menschen sowie (in methodischer Hinsicht) die aufklärerische Orientierung an den Idealen der intellektuellen Redlichkeit, wonach Behauptungen logisch / empirisch belegt sein müssen, damit sie von Relevanz sein können.

Selbstverständlich wäre die freie Religionsausübung (und sollte sie noch so absurde Formen annehmen!) auch aus humanistisch-aufklärerischer Perspektive weiterhin als wichtiges Verfassungsgut zu schützen (sofern sie sich bezüglich ihrer weltlichen Konsequenzen im Verfassungsrahmen bewegt). Die staatliche Förderung der Religionen jedoch solte gegenüber der heute üblichen Praxis deutlich zurückgenommen werden. Es ist schlichtweg unzumutbar, dass die Großkirchen (neben der Kirchensteuer) immer noch Jahr für Jahr öffentliche Subventionen in zweistelliger Milliardenhöhe kassieren. Der in Deutschland in besonderem Maße hinkenden Trennung von Staat und Kirche muss dringend Beine gemacht werden. Dies wäre keineswegs nur Ausdruck der geforderten weltanschaulichen Neutralität, sondern vielmehr auch der weltanschaulichen Positionierung des modernen Rechtsstaats, dessen Profil aus der Orientierung an den säkularen Idealen von Humanismus und Aufklärung erwächst.

Der Staat sollte deshalb auch ein Interesse daran haben, diese Ideale bewusst zu fördern, was u. a. mit den folgenden Konsequenzen verbunden sein sollte...

  • der Umwandlung der staatlich finanzierten, aber kirchlicher Kontrolle unterworfenen Theologischen Fakultäten in gut ausgestattete freie Religionswissenschaftlich-Philosophische Institute;
  • der Einführung eines integrativen philosophisch-religionswissenschaftlichen Werte-Unterrichts für alle Schüler in allen Bundesländern anstelle des konfessionell gebundenen Religionsunterrichts
  • der Besetzung von Rundfunk-, Ethikräten etc. mit Experten, die sich tatsächlich der Leitkultur Humanismus und Aufklärung verpflichtet fühlen, anstatt irgendwelche weltanschaulich-religiöse Partikularinteressen zu bedienen;
  • der Aufhebung des besonderen Tendenzschutzes religiöser Betriebe (es ist nicht hinzunehmen, dass Menschen, die von ihrem Recht Gebrauch machen, sich nach einer Scheidung wiederzuverheiraten, deshalb ihre Arbeitsstelle verlieren können);
  • der Förderung säkularer Träger im Bildungs-, Sozial- und Gesundheitssektor (dass ein Großteil der Menschen in Notsituationen ausgerechnet auf die Hilfe religiöser Institutionen angewiesen ist, stellt einen bislang kaum ausreichend thematisierten sozialpolitischen Skandal dar).

4. "Trennung von Staat und Weltanschauung", "dritte Konfession" oder "Leitkultur Humanismus und Aufklärung"? Unterschiedliche Konzeptionen zum Verhältnis von Staat und Weltanschauung

Bilder sagen häufig mehr als Worte. Um das bisher Vorgetragene zu vertiefen, möchte ich nachfolgend die verschiedenen Modelle des Verhältnisses von Staat und Weltanschauung anhand einiger einfacher Grafiken illustrieren.

4.1 Das real existierende Modell der staatlichen Privilegierung der Großkirchen

Bezogen auf die drei zahlenmäßig bedeutendsten weltanschaulichen Gruppen in Deutschland (die Konfessionslosen, die evangelischen und die katholischen Christen) sieht das real existierende Verhältnis von Staat und Weltanschauung momentan wie folgt aus:

Der deutsche Staat privilegiert massiv die christlichen Kirchen, ignoriert aber weitgehend die Interessen der Konfessionslosen, obgleich diese mittlerweile schon ein Drittel der Bevölkerung ausmachen (und dies mit steigender Tendenz).

Dieses Missverhältnis wird natürlich von der säkularen Szene heftigst kritisiert. Sie verlangt eine grundlegende Änderung. Zurzeit gibt es hierzu zwei Modelle, die das Verhältnis von Staat und Weltanschauungsgemeinschaften auf recht unterschiedliche Weise definieren. Das erste Modell ist das Modell der konsequenten Trennung von Staat und Weltanschauung, das zweite das Modell der "dritten Konfession".

4.2 Das Modell der konsequenten Trennung von Staat und Weltanschauung

>Dieses Modell wird u.a. vom Internationalen Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) vertreten. Grafisch lässt es sich etwa folgendermaßen darstellen:

Nach diesem Modell müssen die Privilegien der Kirchen abgeschafft werden, allerdings sollten auch andere, beispielsweise humanistische Weltanschauungsgruppierungen nicht vom Staat gefördert werden, da sich der Staat tunlichst aus weltanschaulichen Angelegenheiten heraushalten sollte.

4.3 Das Modell der "dritten Konfession".

>Dieses Modell wird vor allem vom Humanistischen Verband Deutschlands (HVD) vertreten. Grafisch sieht es in etwa wie folgt aus:

>Hier wird davon ausgegangen, dass der Humanismus eine Weltanschauung neben vielen anderen ist - und zwar eine Weltanschauung, die in der Wahrnehmung des Staates gleichberechtigt neben den religiösen Weltanschauungen stehen muss, was u.a. impliziert, dass humanistische Gruppierungen auch in den Genuss entsprechender staatlicher Förderung gelangen sollten.

4.4 Das Modell "Leitkultur Humanismus und Aufklärung"

Neben diesen beiden gängigen Modellen wäre allerdings auch ein drittes Alternativmodell denkbar, das sich aus der Idee der Leitkultur Humanismus und Aufklärung ableiten lässt. Es lässt sich ungefähr so darstellen (bitte nicht erschrecken!):

Im Rahmen dieses Modells wird die konsequente Trennung von Staat und Kirche bzw. Religion vollzogen, die Trennung von Staat und Weltanschauung jedoch als Fiktion verworfen, da es so etwas wie einen weltanschaulich neutralen Staat gar nicht geben kann. Im Unterschied zum Modell der "dritten Konfession" wird der aufgeklärte Humanismus hier nicht als eine Konfession neben vielen anderen begriffen, sondern als die eigentliche Essenz des modernen Rechtstaates. Von diesem wird erwartet, dass er seine eigenen Grundlagen entschieden fördert, Religionen hingegen bloß toleriert.

Mir scheint dieses Modell (zur Zeit zumindest) das logisch stringenteste zu sein. Es hat auch den Vorteil, dass sich mit seiner Hilfe angesichts der gesellschaftlichen Debatten um Kopftücher und Kreuze, Ehrenmorde und Parallelgesellschaften, Fundamentalismus und Leugnung der Evolutionstheorie politisch am besten arbeiten ließe. Man könnte einerseits mit dem Begriff der "humanistisch-aufklärerischen Leitkultur" Aufmerksamkeit in Medien und Politik erzeugen und andererseits ganz nebenbei auch einen Kompromiss herstellen zwischen den so unvereinbar erscheinenden Modellen "Trennung von Staat und Weltanschauung" und "Dritte Konfession", die eine intensivere Zusammenarbeit zwischen den säkularen Verbänden in Deutschland zur Zeit noch behindern. Schließlich zeigt dieses alternative Modell, dass es sehr gut möglich ist, sowohl für eine konsequente Trennung von Staat und Religion einzutreten als auch für eine staatliche Förderung humanistischer Unternehmungen.

5. "Leitkultur Humanismus und Aufklärung" – konkrete Utopie oder idealistisches Luftschloss?

So utopisch es heute auch klingen mag: Auf lange Sicht könnten sich in Deutschland durchaus Bevölkerungsmehrheiten für eine Reformpolitik im Sinne der Leitkultur Humanismus und Aufklärung finden lassen. Hierzu einige Fakten, die in der politischen Diskussion bislang kaum ausreichend Beachtung fanden:

  • Die Gruppe der Konfessionslosen ist (seit 2003 und mit steigender Tendenz) die größte weltanschauliche Gruppierung in Deutschland mit einem Bevölkerungsanteil von 31,8 Prozent, gefolgt von den Katholiken und Protestanten mit jeweils 31,3 Prozent.
  • Grundlegende Konzepte des Christentums spielen selbst für Kirchenmitglieder keine Rolle mehr. Laut einer repräsentativen Studie von Allbus (2002) glauben deutschlandweit nur noch 35,5 Prozent der katholischen und 23,3 Prozent der evangelischen Kirchenmitglieder an einen persönlichen Gott (und dies ist immerhin eine der Grundbedingungen dafür, um sich überhaupt redlicherweise als Christ bezeichnen zu können!). Auf die Gesamtbevölkerung bezogen ist der Glaube an einen persönlichen Gott auf magere 31 Prozent zurückgefallen.
  • Insgesamt wird die Bedeutung der Religion sowie religiöser Institutionen weit skeptischer eingeschätzt als je zuvor. Nach einer Umfrage des Emnid-Instituts von 2005 gehen nur noch 37 Prozent der Deutschen davon aus, dass Religion notwendig sei, um unterscheiden zu können, was richtig und was falsch ist. 61 Prozent der Deutschen geben zudem an, Kirchen oder religiöse Gemeinschaften könnten nicht über Glaubensinhalte entscheiden. Für diese Aussage gab es absolute Mehrheiten in allen befragten Gruppen – bei Gläubigen wie Nichtgläubigen, Menschen in Ost und West, Männer und Frauen ebenso wie Protestanten und Katholiken.

 

Führt man sich vor Augen, wie rasant der Prozess der Entchristlichung vonstatten gegangen ist (1970 gab es hierzulande nur 3,9 Prozent Konfessionslose, 1987 waren es 11,4 Prozent, 1990 – nach dem Anschluss Ostdeutschlands – 22,4 Prozent, 2003 31,8 Prozent), so ist es, sofern sich dieser Trend fortsetzt, nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Großkirchen nach dem Verlust ihrer weltanschaulichen Prägekraft auch die Majorität bezüglich der Mitgliedszahlen verlieren (etwa 2020 dürften die Konfessionslosen die Bevölkerungsmehrheit in Deutschland stellen!).

Dieser Prozess ist umso beachtlicher, als dass in den öffentlichen Medien hemmungslos Religionspropaganda gemacht wird (häufig auch unter redaktioneller Federführung der Kirchen), während religionskritische Positionen immer noch weitgehend verdrängt werden. Man muss davon ausgehen, dass die Lage der Großkirchen noch verheerender aussehen würde, wenn den Vertretern einer humanistischen Aufklärung auch nur annähernd die gleichen Senderechte eingeräumt würden wie den Großkirchen.

Insofern ist die Hoffnung vielleicht doch nicht allzu utopisch, dass es gelingen könnte, die in der Verfasstheit des modernen Rechtsstaats bereits enthaltene Leitkultur Humanismus und Aufklärung noch stärker in der Gesellschaft zu verankern. Dafür spricht auch, dass diese Leitkultur effektiver als jede Alternative (incl. der "Leitkultur der Leitkulturlosigkeit") in der Lage ist, die unterschiedlichen Interessen der Individuen zu berücksichtigen.

"Jeder Jeck ist anders!", heißt es im (kölschen) Volksmund. Daran will der aufklärerische Humanismus gewiss nichts ändern. Im Gegenteil, er erkennt gerade in der Unterschiedlichkeit der Menschen, in ihren verschiedenen Talenten, Neigungen, Wünschen, Lebensstilen eine wertvolle Ressource für das gesellschaftliche Zusammenleben. Eine wie auch immer geartete Gleichschaltung der Gesellschaft auf bestimmte Moral- oder Ästhetikstandards liegt dem Humanismus fern. Er überlässt den Menschen die volle Souveränität über die Entwicklung und Gestaltung ihrer eigenen Lebensentwürfe. Sein Augenmerk liegt allein darauf, ob die Spielregeln, die dem gesellschaftlichen Miteinander zugrunde liegen (und hier sind vor allem die ökonomischen Spielregeln zu beachten, auf die ich im Rahmen dieses Vortrags leider nicht eingehen kann), für alle Betroffenen fair sind und ob sich diese Spielregeln der Erfordernis einer rationalen Überprüfung (und gegebenenfalls Veränderung) nicht entziehen.

Halten wir abschließend fest: Wer für die Leitkultur Humanismus und Aufklärung eintritt, beschreitet einen Weg jenseits von Fundamentalismus und Beliebigkeit. Diese Leitkultur vermittelt (im Unterschied zum Paradigma der postmodernen Beliebigkeit) einerseits genügend Orientierung, um den Menschen in ihrer Suche nach Sinn Halt zu geben und ihr Zusammenleben nach vernünftigen Regeln zu gestalten, andererseits ist sie aber (im Unterschied zum religiösen oder politischideologischen Dogmatismus) gleichzeitig offen genug, um die Menschen in ihrer Souveränität nicht unzulässig einzuschränken. Humanismus und Aufklärung zielen also keineswegs auf eine "triste Monokultur" ab, sondern vielmehr auf die Entwicklung einer lebendigen, einheitlich humanen und doch vielfältigen Kultur, in der sich a) viele verschiedene Lebensentwürfe realisieren lassen, jedoch b) strukturell verhindert wird, dass das Glück der Einen (allzu sehr) auf dem Unglück der Anderen gründet. Ein Ziel, für das es sich meines Erachtens zu kämpfen lohnt…



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