Prof. Dr. Gerard Radnitzky (Trier)

Freitod und letzte Hilfe –
Das Recht auf sich selbst ernst genommen.

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/2004, S. 127-131


Das Thema scheint "in" zu sein. Am 18.9.03 behandelte es die "Neue Zürcher Zeitung" (NZZ) in einem Ländervergleich; die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" (FAZ) brachte am 16. September 03 einen Artikel mit dem Titel "Zürich sehen und sterben", der von den Ermittlungen eines übereifrigen Züricher Staatsanwalts gegen die Sterbehilfeorganisation "Dignitas" berichtete und am 19. September nahm die FAZ das Thema nochmals auf mit einem ganzseitigen Artikel "Letzte Hilfe" von Volker Gerhardt. Bereits am 16.10.1998 hatte die NZZ über einen Kongreß der World Federation of Right-to-Die-Societies rapportiert. Die Einstellung der Bevölkerung scheint sich in Richtung auf mehr Selbstbestimmung des Individuums und mehr Toleranz hin zu bewegen. Spektakuläre Fälle haben dazu beigetragen. Kürzlich der Fall Vincent Humbert, der Autor schilderte seine Situation in einem Buch: "Je vous demande le droit de mourir" (Genf: Michel Lafon, 2003). Die tieferen Probleme des Themas wurden allerdings bisher kaum zufriedenstellend behandelt, weshalb eine Ergänzung angezeigt erscheint.

Die Sprache verrät die Denkweise

Die Wortkombination ‘Selbstmord’ ist ein Musterbeispiel der Klasse von Ausdrücken, die suggerieren, es handele sich um etwas Böses (Aristoteles Nicomachische Ethik, 1107A 8-l3). Genau besehen ist es der Ausdruck einer Anmaßung von Unwissen: man gibt vor, den Unterschied zwischen "Mord" und "Freitod" nicht zu kennen. Sich selbst zu ermorden, ist nämlich genau so logisch unmöglich wie Ehebruch mit seiner eigenen Frau zu begehen. Der semantische Unfug ‘Selbstmord’ scheint eine deutsche Spezialität zu sein, denn der Ausdruck läßt sich gar nicht wörtlich übersetzen. Im Englischen würde die Wortbildung, ‘self-murder’ verlacht werden, und Analoges gilt von den romanischen Sprachen. Im Englischen ist ‘Suicide’ durch das Lateinische neutralisiert, und ‘to suicide’ als intransitives Verb ist völlig neutral.

Die Grundfreiheit des Lebens

In zivilisierten Staaten wird die elementare Freiheit jedes Menschen zu leben anerkannt, d. h. daß niemand den Inhaber der Freiheit dieser Freiheit berauben darf, es sei denn es liegen besondere Gründe für den Eingriff in diese Freiheit des anderen vor (Selbstverteidigung z.B.). Bei einer Freiheit trägt derjenige, der dagegen Einwände erhebt, die Beweislast. Bei einem Recht dagegen trägt derjenige, der behauptet, er habe ein bestimmtes Recht, die Beweislast. Von einem "Recht auf Leben" zu sprechen, ist nur dann legitim, wenn man damit ein Optionsrecht meint, und kein Wohlfahrtsrecht. Die sogenannten Wohlfahrtsrechte sind nämlich genau besehen keine Rechte, sondern gewährte Ansprüche gegenüber dem Staat, de facto gegenüber dem Steuerzahler. Wenn wir aber hier dem Sprachgebrauch folgen und das überstrapazierte Wort "Recht" (als Optionsrecht verstanden) verwenden, so ist Folgendes festzustellen.

Das Recht auf Leben impliziert das Recht auf Sterben

Aus dem Recht auf Leben als dem Recht des Individuums, nicht gegen seinen Willen des Lebens beraubt zu werden, folgt logisch das Recht des Individuums, sein Leben zu beenden, wenn und wann es dies als Inhaber der Freiheit will. Verneint man das Korollarium, dann verliert der Begriff "Freiheit zu Leben" seinen Sinn. Genau so verhält es sich mit der Freiheit auf Vereinigung, freedom of association (gewöhnlich spricht man im Deutschen auch hier von einem Recht: Recht auf Vereinigung). Es verliert seinen Sinn, wenn die Mitgliedschaft erzwungen oder der Austritt verhindert wird. Das Recht auf Leben und sein Korollarium, nämlich die Freiheit zu sterben, markieren einen zentralen Bereich der Entscheidung. Aus diesen elementaren Freiheiten, oder Optionsrechten, folgt logisch die Verpflichtung aller anderen –Bürger und Staat – sich eines Eingriffs in diesen Bereich zu enthalten – Nichteinmischung. Berühmt wurde die Formulierung des amerikanischen Bundesrichters gegen Ende des 19. Jahrhunderts Louis D. Brandeis: "das Recht, in Ruhe gelassen zu werden" als Ausdruck eines modernen Freiheitsverständnisses sowohl gegenüber staatlichen als auch gegenüber sozialen Gewalten wie den Medien.

John Lockes Begriff der "Self-ownership" – das Recht auf sich selbst.

Die Privatsphäre und das Recht auf sich selbst sind untrennbar. Der Freiheitsbereich des Individuums wird durch den Begriff des Selbst-Eigentums, der "self-ownership" (John Locke) "selfe propriety" (Richard Overton, 1646) geschützt. Der Kern meines Eigentums sind mein Körper und mein Intellekt; um diesen Kern herum sammeln sich diejenigen Entitäten, materielle und intellektuelle, die ich mittels des Einsatzes der mir zur Verfügung stehenden Ressourcen erstellen kann, durch Kauf oder Kontakte erwerben kann, sowie Geschenke und Erbe. Ein Verfügungsverbot in Bezug auf seinen Körper und seine Fähigkeiten ist ein anmaßender Eingriff des Staates in den Freiheitsbereich des Individuums. Das Verhalten des Staates zu diesem Freiheitsraum, ist ein Indikator für den Grad von Freiheit/Unfreiheit in diesem Staat. In unfreien Staaten wird dem Individuum sogar die Freiheit über sein eigenes Leben und Sterben verfügen zu dürfen, abgesprochen. Die "self-ownership" wird geleugnet. Das ist der Fall in allen totalitären Systemen, in Theokratien und Ideokratien. Aber nicht nur dort, denn auch ein Staat, der sich zu einer "freiheitlich-demokratischen Grundordnung" bekennt, hat totalitäre Züge, und in bestimmten Bereichen kann er sogar als ein verkappter Gesinnungsstaat erscheinen.

Wem gehört mein Körper, wenn nicht mir? "Er gehört Gott", sagt der Gläubige; das ist für ihn verbindlich, aber für den Agnostiker irrelevant. Wer aus Angst vor der Hölle einen Suizid nicht wagt, weil er meint, er sei Eigentum Gottes, der muß eben die Künste der Palliativmedizin bis zum bitteren Ende ertragen. Also gehört mein Körper etwa dem Staat? Oder der Gesellschaft? Im Sozialismus gehört das Individuum der Gesellschaft. Das Recht auf sich selbst gibt es ebenso wenig wie die Privatsphäre. Wenn das Individuum noch Leistungsträger ist, würde sein Ableben für die Gesellschaft nachteilig sein; wenn es nur mehr Konsument ist, ist sein Verschwinden dagegen wünschenswert. Besonders deutlich war das in der Ideologie der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Dort gehörte das Individuum der "Volksgemeinschaft". Man denke an NS-Parolen wie "Privatleute haben wir nicht mehr.", "Privat ist der Schlaf". Im dritten Jahrtausend unserer Ztr. stellt man mit Erstaunen fest, daß es sogenannte Rechtsgelehrte gibt, welche die Selbstverfügung als einen "intrapersonalen Rechtspflichtverstoß" interpretieren. (Beispiel: Maatsch, A. 2001. Selbstverfügung als intrapersonaler Rechtspflichtverstoß.)

Auf die Frage, wem gehört mein Körper?, können Juristen dieser Sorte bereits wegen der verfassungsmäßigen weltanschaulichen Neutralität des Staates, um dessen Rechtssystem es geht, nicht antworten: "Gott". Sie können sich allenfalls auf die Ideologie der rabiaten Sozialisten berufen – in der Geschichte einschließlich derjenigen der Nationalsozialisten und der Sowjets. Aber keine dieser Ideologien ist heutzutage mehr aktuell. Diese Juristen haben also ein Problem, ein ideologisches Problem.

Für gläubige und für mündige Personen besteht dagegen kein intellektuelles Problem.

Gläubige richten sich – ex definitione – nach den Regeln ihrer Glaubensgemeinschaft. Sie delegieren die Entscheidung auf Rabbis, Ajatollahs, Bischöfe usf. Der mosaische und der islamische Glaube sind hier am meisten freiheitsheitsfeindlich – was deren Gottesbegriff als einen orientalischen Despoten entspricht. Das Christentum ist durch seinen polytheistischen Einschlag etwas gemildert, und in Bezug auf die Einstellung zur Beihilfe läßt sich heutzutage kein Unterschied zwischen Katholiken und Protestanten mehr feststellen, wie statistische Untersuchungen kürzlich gezeigt haben.

Für eine mündige Person, welcher der Begriff der "self-ownership" einleuchtet, besteht kein Problem. Sie ist ex definitione fähig, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Die Entscheidungsfunktion ist nicht delegierbar; denn wenn sie delegiert würde, verlöre die Person den Status "mündig". Der Verlust der Mündigkeit, schließt also logisch eine Bitte um Beihilfe zum Ableben aus. Um dem vorzubeugen, bleibt nur die Hinterlegung einer entsprechenden Verfügung, so lange die Person noch im Besitze ihrer geistigen Kräfte ist, einer "Patientenverfügung" (am besten notariell beglaubigt). Die Begegnung mit um Hilfe Bittenden kann zu Problemen führen, denn der Mensch (vielleicht der oben angesprochene Typus von Juristen ausgenommen) hat auch die emotionale Reaktion des Mitleids. Zumindest im Verhältnis zu Hunden ist das deutlich: einen geliebten Hund will man nicht leiden sehen, nicht qualvoll sterben sehen. Da sucht man die Hilfe des Veterinärs.

Zur Frage der Beihilfe

Aus dem Recht auf Leben und seinem Korollarium dem Recht auf Sterben folgt keinesfalls eine Verpflichtung zur Beihilfe. Weder ist aus dem Recht auf Leben ein Anspruch, von anderen (Gott, Natur, Staat, Gesellschaft usf.) die zur Lebenserhaltung notwendigen Mittel zu erhalten, ableitbar, noch folgt aus dem Recht auf Sterben ein Anspruch, ärztliche oder sonstige Hilfe dazu zu erhalten. Wie alle Grundfreiheiten oder Optionsrechte impliziert das Recht auf Sterben lediglich einen Freiraum. In einer freien Gesellschaft wird die Frage, ob ein zum Sterben entschlossenes Individuum für sein Vorhaben ärztliche Hilfe erhalten kann, durch das Prinzip der Vertragsfreiheit geregelt. Es legt keinem Arzt eine Obligation auf, aber es ermöglicht jedem Arzt, Hilfestellung zu leisten, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen. Das gilt allerdings nur für eine relativ freie Gesellschaft. Selbstverständlich ist eine Gesellschaft, in der Beihilfe zum Freitod kriminalisiert wird, eo ipso keine freie Gesellschaft.

In Bezug auf Beihilfe wird in unfreien Staaten einfach erklärt, das Leben und damit auch das Beenden des Lebens gehörte zu den sogenannten "inallienablen Rechten", das heißt die Vertragsfreiheit wird für diesen ganz persönlichen Bereich gar nicht gewährt. [Eine weitere Anmaßung des Staates liegt überall dort vor, wo der Staat sich zum Miterben erklärt, eine Erbschaftssteuer nimmt – eine Art Todessteuer als postumer Raub an einem Verstorbenen.] Die Argumentation, die von Juristen dabei verwendet wird, zeigt, daß manche Strafrechtler einen Eigentumsbegriff haben, der sich von Lockes "self-ownership" auf Körper, Geist und das, was man mit deren Hilfe erwerben konnte, drastisch unterscheidet und einen Totalitarismus in potentia enthält. Analoges gilt für den Gesetzgeber. An die englische Spruchweisheit sei erinnert: "Eigentum und Freiheit sind in Gefahr, so lange das Parlament tagt."

Im Westen ist die Säkularisierung im Sinne der Trennung von Staat und Kirche erfolgt. Mit Hilfe der sich als universal gebärdenden Institutionen des christlichen Europas schufen die Clerici durch Jahrhunderte nicht nur die Imagination innerer und äußerer Feinde (Ketzer, Juden usf.), sondern auch Perspektiven und Denkstile. Auch heute noch kann man den mehr oder weniger verdeckten Einfluß der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, oder der Reste dieses Einflusses auf die von Vertretern der Legislative und der Justiz verwendeten Denkfiguren beobachten. Verständlicherweise wird jeder Versuch, allen und auch den Nichtmitgliedern (den Nichtgläubigen) eine bestimmte Ideologie aufzuoktroyieren, bei den Nichtmitgliedern Abwehrreaktionen gegen solche Anmaßung hervorrufen.

Die vorgebrachten Reflexionen dürfen nicht als ein Plädoyer für eine offizielle Freigabe der "letzten Hilfe" mißverstanden werden. Eine solche Freigabe führte zumindest im Prinzip ein "Moral Hazard" ein: es würden Anreize zu leichtfertigem Handeln geschaffen, wenn man meinte, die Kosten würden von anderen getragen oder mitgetragen. Im Extremfall, daß zum Beispiel Pfleger Patienten ermorden, die gar nicht um letzte Hilfe gebeten haben – ein Verstoß gegen die Grundfreiheit des Lebens und damit auch gegen das Selbstbestimmungsrecht des Individuums. In der Praxis viel wichtiger ist jedoch, daß es eine abgrundtiefe Dummheit wäre, die Beantwortung der in Rede stehende Frage dem Staat zuzuschieben. Denn im demokratischen System würde das bedeuten, sie der Meinung der jeweiligen Gewinnerkoalition (oft einem "gewählten Despoten") anzuvertrauen, eine Kollektiventscheidung auf ein Bereich anzuwenden, das zum Zentrum der Privatsphäre gehört und von solchen Einmischungen – die für Sozialisten eine ständige Versuchung sind – geschützt sein sollte, für den Staat tabu sein sollte. Es würde bedeuten, das Recht auf sich selbst einer Kollektiventscheidung zu überlassen, das heißt, es aufzugeben.

Ein Vergleich Schweiz und BRD

Auch auf diesem Gebiet ist ein Vergleich der BRD mit der Schweiz aufschlußreich. Nicht nur auf dem Gebiet der Besteuerung von Arbeit, der finanziellen Privatheit (dem Bankkundengeheimnis) usf. ist die Schweiz ein viel rationaleres und bürgerfreundliches Land als die BRD, sondern auch im Bereich der "letzten Hilfe". Die Schweiz hat zwei Institutionen, die sich damit befassen: die Exit (die nur für Schweizer Bürger zuständig ist) und die Dignitas, die auch bereit ist, Ausländern zu helfen. Die Exit hat in der kleinen Schweiz etwa die gleiche Anzahl Mitglieder wie Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben in der vielmals größere BRD. Die Exit wurde durch die Berichte der bunten Magazine der BRD über den Fall Sandra Paretti ausgiebig bekannt gemacht. Sandra Paretti – bekannt durch ihre TV- Serien wie "Traumschiff", "Die Schwarzwaldklinik" – selber schrieb in ihrer Todesanzeige, das gute Ende "verdanke ich der wunderbaren Hilfe von EXIT" (Neue Zürcher Zeitung [NZZ] vom 15. 3. 1994). Oder eine andere Todesanzeige in der NZZ vom 10. Juli 2000, in der ein Ehepaar Abschied nimmt: "Hanno preso serenamente l’ultima curva" (Sie haben heiter und gefaßt die letzte Kurve genommen) und sich bedankt: "Dass sie so ruhig und gelassen gehen konnten, verdanken sie der Hilfe von EXIT." ("Statt Blumen z spenden, gedenke man der EXIT.") Wie weit die BRD von einer freien Gesellschaft entfernt ist, kann man auch in diesem Bereich sehen, wenn man bedenkt, daß ein Gegenstück zur Exit in der BRD sogleich den Staatsanwalt auf den Plan rufen würde.

em. o. Prof. Dr. Gerard Radnitzky, www.radnitzky.de



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