Günther Schabowski

Der geröntgte Marx

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik, Sonderheft 10/2005 "Was bleibt vom Marxismus?", S. 71-76


Wenn das auf einem Mythos Errichtete zusammenbricht, sieht sich der Adept vor den Trümmern seines Glaubens. Den Mythos nachhaltig zu zerstören, ist die Überlebenschance die ihm bleibt,

Die Arbeiten von Konrad Löw über Marx und den Marxismus leisteten mir so etwas wie Lebenshilfe, weil sie mich darin bestärkten, Klarheit über die Ursachen unseres Scheiterns zu gewinnen. Löws Schriften – es waren nicht die einzigen aus den Giftschränken des freien Geistes die ich in den Neunzigern verschlungen habe –, insbesondere seine Chrestomatien, lieferten mir befreiende Röntgenaufnahmen der roten Säulenheiligen.

Gut vierzig Jahre früher unter dem verstörenden Erlebnis des braunen Zusammenbruchs und der Enthüllung der Nazi-Verbrechen waren wir damals Jungen willig, uns von Genossen, die durch KZ und Widerstand geweiht waren, auf die Weisen von Trier und Barmen einschwören zu lassen. Sie schienen uns die Alternative eines gerechten Daseins zu verheißen und auf immer einen Rückfall in die gerade durchlebte Barbarei auszuschließen. Wir wussten nicht, welche Hekatomben von Opfern die Ideen der Dioskuren aus Trier und Barmen bis dahin schon im Vaterland der Werktätigen gefordert hatten. Später, als wir es hätten sehen und wissen können, half uns ideologische Blickverengung, die Folgen marxistischer Weltverbesserung nicht wahrzunehmen.

Unbeirrbar schritten wir weiter aus auf einem Weg, den die Sünden der schönen neuen Welt längs schlüpfrig gemacht hatten, und der im endgültigen Absturz münden sollte.

Die DDR war eine marxistische Nachgeburt, wenngleich mitgeprägt von den Einschlüssen des Leninismus/Stalinismus, für die der sowjetische Taufpate gesorgt hatte. Der Untergang des deutschen Interimsstaates war grundlegend durch die Anmaßung eines falschen Denkens gesetzt. Marxens Kopfgeburten und Psyche sind – auch dank der Publikationen von Löw – längst entmystifiziert. Damit ist auch unbelehrbaren Linken Wind aus den Segeln genommen, die nicht müde wurden und werden zu behaupten, Marx’ Ideen seien durch ihre Umsetzung von Peking über Moskau bis Ostberlin fälschlich dogmatisiert worden. Lesen Sie Löw, lesen Sie Raddatz, lesen Sie die Marx-Biografie von Wheel, und Sie werden, ungeachtet der unterschiedlichen Standorte und Intentionen der Autoren, eines feststellen: Marx war der besessenste Dogmatiker seiner selbst. Natürlich, zu denken kann keinem Philosophen verwehrt sein. Es erweist sich nur, dass die ärgsten Feinde einer Philosophie jene sind, die sie anwenden oder – sagen wir – vollstrecken wollen wie einen Gerichtsentscheid.


Krebsschaden Vergesellschaftung

Im Unterschied zu den Träumen von einer besseren Welt, den moralischen Entwürfen eines Morus, eines Campanella oder Rousseau, die (teils über Jahrhunderte) schön, aber wirkungslos am Himmel der Ideale baumelten, setzte Marx den Hebel der Veränderung am profanen Untergrund der Gesellschaft an, im unansehnlichen, verrußten und verachteten Milieu der Warenproduzenten, der Manufakturen, in der Ökonomie. Der Marxismus hat Mängel benannt, die in den ungebremsten Eigentumsverhältnisse der zeitgenössischen bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft aufbrachen oder in ihren Warenbeziehungen verborgen waren. Aber Marx wie später Lenin verstießen gegen ihre eigene dialektische Raison, indem sie jede Veränderungsfähigkeit und -möglichkeit des von ihnen dämonisierten großen Eigentums leugneten. Sie unterlagen der Begrenztheit des Menschen, über die Zukunft nichts Genaues zu wissen. Sie konnten z. B. nicht die tatsächliche und enorme Entwicklung der Technik voraussehen. Sie stellten das Dogma von der absoluten Verelendung der Arbeiterklasse auf. Sie hatten keine Vorstellung von den Möglichkeiten der Demokratie auch als eines Faktors der Wirtschaftskontrolle; sie sahen in ihr nur den Schleier zur Tarnung der drahtzieherischen Macht des Kapitals. Und sie konnten nicht ahnen, daß die modernen Möglichkeiten der Selbstvernichtung der Menschheit ein neues Denken auf die Tagesordnung setzen würden, das den antagonistischen Clinch der Systeme zu einer altmodischen und lebensgefährlichen Hysterie deklassierte. Vor allem aber sollte sich ihre Prognose, durch eine umgestülpte Ökonomie eine gerechtere Welt des Wohlstands, ja, des Überflusses für alle zu schaffen, als ebenso irreal erweisen wie die Utopien der Vergangenheit, die sie doch mit "Wissenschaft" auf die Erde holen wollten.

Nach einem Dreivierteljahrhundert des Experimentierens waren die sozialistischen Volkswirtschaften nahezu lautlos in sich zusammengefallen. Es war die unabwendbare Folge ihrer Lebensuntauglichkeit. Sie hatten nie und nirgends die in ihrer Anfangsphase noch einzusehende Leistungsinferiorität gegenüber dem Wirtschaftssystem überwunden, das sie herausgefordert hatten. Ein von Lenin stammender kommunistischer Glaubenssatz lautet: Die höhere Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz entscheidend für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Damit war dem System schon früh das Urteil gesprochen. Es hat dem eigenen Kriterium nicht standgehalten.

Das Marx-Rezept der Vergesellschaftung der Produktionsmittel als Gegenentwurf zur Marktwirtschaft mit ihrem Fundament individueller Produzenten hat in keinem einzigen Fall zu einer Gesellschaft geführt, die mangelfrei oder weniger mangelhaft als die zu überwindende gewesen wäre. Sie hat die Unzulänglichkeiten der kapitalistischen Gesellschaft in eigenartige sozialistische Spiegelbilder transformiert. An die Stelle des Gegensatzes von Arm und Reich setzte sie den Widerspruch zwischen offiziellem und inoffiziellem Leben, zwischen der politischen Klasse, der Nomenklatura, und der Masse der Bürger.

De Realsozialismus war schließlich außerstande, die ökologische Herausforderung zu beantworten. Die angeborene Leistungsschwäche und der Wachstumssog, der aus der Nachbarschaft zur Bundesrepublik erwuchs, ließ die DDR den Raubbau an der Umwelt noch ungebremst betreiben, als sich der Westen, wenn auch widerstrebend, unter dem Druck der apokalyptischen Beschwörungen der Grünen auf eine neue Raison des Mensch-Natur-Verhältnisses zubewegte.


Marxismus und Stalinismus

Landläufig werden das Scheitern der SED und das Verenden der DDR auf die stalinistischen und nachstalinistischen Züge zurückgeführt, welche die Partei, ihre Politik und ihre Schöpfungen geprägt oder mißgestaltet haben. Was bei den einen das Bedürfnis nach schnellen Deutungen solcher Phänomene befriedigt, ist bei anderen, insbesondere bei hinterbliebenen Linken, der Wunsch, aus dem sozialistischen Nachlaß etwas Unbeschädigtes für den Eigenbedarf herüberzuretten. Hilfreich dafür scheint, das sozialistische Fiasko ausschließlich als das Werk der Marx-Nachfahren und -Verfälscher des 20. Jahrhunderts zu personalisieren. Das erspart es, Marx und Engels bzw. ihre Theorie mit einzubeziehen. Bleiben sie unbelastet, bleibt es auch der Umgang mit ihnen. Geflissentlich übersehen wird von dieser Seite, daß sich z. B. die Führung der SED – ich zitiere Thomas Naumann, einen Kenner linker Schemata – "unter dem Mantel des Stalinismus durchaus als Marxisten bewegten" – und verstehen konnte.

In einer Gesellschaft, die keine Alternative duldet, die diktatorisch strukturiert ist, werden sich die Muster "Lenin", "Stalin" oder "Mao" immer wieder durchsetzen. Die Disposition steckt in der gesellschaftlichen Monostruktur. Sie wird zur Fixierung auf einen weisen Steuermann verleiten, um die Unsicherheiten zu kompensieren, die in einer pluralistischen Demokratie durch eine entwickelte und garantierte Streitkultur aufgearbeitet werden. Stalin war folglich eine Möglichkeit der marxistischen Praxis. Die Marxsche Partei-Idee von der hellseherischen Vorhut war die ideelle Voraussetzung für die Parteidiktatur, die Allmacht des Politbüros und ihres Generalsekretärs. Die Parteien der kommunistischen Internationale bekannten sich unter Berufung auf Marx zum Stalinschen Muster. Es schien ihnen besonders geeignet, die Massen für die von Marx proklamierte Mission in die letzte Klassenschlacht zu fuhren. Deshalb dekretierte ein Glaubenssatz die "führende Rolle", anders gesagt, die autoritäre Vorherrschaft der "Partei der Arbeiterklasse". Ihr Organisationsaufbau war streng hierarchisch. Ihr inneres Regulativ hatten Marx und Engels schon 1848 für den "Bund der Kommunisten" definiert: Demokratischer Zentralismus. Es war ein Prinzip, das auf das Disziplingebot eines verfolgten Geheimbundes zugeschnitten war


Stifter einer Diesseitsreligion

Marx umhüllt die Aura des Wissenschaftlichen. Seine Nachbeter werden nicht müde, das zu beschwören. Es ist der Versuch, seine kommunistischen Zukunftsvisionen vom Ruch platter Prophetie zu entlasten. Aber gerade diese Voraussagen sind es, die Marx zum Stifter einer zweifelhaften Diesseitsreligion machen. Sein Entwurf einer Zukunftsgesellschaft hatte mit der Religion gemein, daß er so unbewiesen war wie das Leben nach dem Tode. Man mußte daran glauben. Die Überzeugtheit vom ewigen Leben fordert allerdings nicht, als gesellschaftliche Totalität durchgesetzt zu werden. Marx setzte das wissenschaftliche Fundament seiner Analysen dazu ein, seine Utopie mit dem Chitinpanzer einer veritablen Theorie auszustatten. Im Unterschied zu den Gottesreligionen bot der Marxismus Perspektiven, die irdisch beweisbar und machbar schienen. Der marxistische Messianismus, zu wissen, wie die Welt von ihren Übeln zu erlösen ist, wurde von denen schnell akzeptiert, die der Religion verübelten, daß sie Duldsamkeit und Demut predigte, hienieden nichts verändern wollte und die Hoffnungen auf ein besseres Jenseits richtete.

Um dem nicht Bewiesenen die Gefolgschaft zu sichern, mußten die Vorstellungen von den irdischen Projektionen fest gefügt werden. Um des hohen und einzigartigen Zieles willen war Indoktrination unumgänglich. Allein der Führungskader der Partei besaß die Verkündigungskompetenz für die Theorie des Marxismus-Leninismus. Er war zugleich die Inquisition, die die reine Lehre gegen häretische Versuche zu sichern hatte.


Die Macht-Neurose

Ein elementares kommunistisches Dilemma bestand darin, daß sich zwischen dem Land der Verheißung, zwischen der Marxschen Prognose und der Realität, an der sich die Revolution versuchte, eine unendliche weite Kluft spannte. Der Weg durch die Mühen der Ebenen war steinig und verlor sich am Horizont. Es gab nicht mal eine Trassierung. Der Typ des Visionärs hatte ausgedient. Die Zeit der Macher, der Pragmatiker, der Apparatschiki brach an. Die kommunistische Substanz, die Glaubenssätze, die Dogmen waren unverrückbar gültig, aber Tag für Tag mußten mit der widerspenstigen Wirklichkeit irgendwelche Kompromisse geschlossen werden. Unablässig drohte die vertrackte Widersprüchlichkeit dieser Lage die Ikonostase der kommunistischen Zukunft zu beschädigen.

Als eine ideologische Zwischeninstanz schiebt der Kommunismus die sogenannte Machtfrage vor das Endziel. Machtfrage, das besagte, Eroberung und Sicherung der Macht ist die Gretchenfrage bei der Errichtung der sozialistischen und kommunistischen Gesellschaft. Macht – das war die Alleinherrschaft der kommunistischen Avantgarde. Sie bestand nicht nur in der Personalunion der Führungen von Partei und Staat. Die Wirkungsweise der Macht erschöpfte sich nicht in der administrativen und militärischen Absicherung. Sie war ein totaler geistiger Anspruch, der darauf zielte, alle gesellschaftlichen Sphären von Kunst bis Kindergarten zu durchdringen und in einer Art ideologischen "Kommunion" sich in alle Hirne zu verpflanzen.

Die Macht sah sich nicht nur von äußeren Feinden umgeben. Sie hegte ein tiefverwurzeltes Mißtrauen gegen die eigentliche Zielgruppe, die werktätigen Massen, die sie zu befreien meinte. Politische Unklarheit in den Köpfen machte die Mehrheit potentiell anfällig für die materielle und geistigen Verführung durch den Klassenfeind. Deshalb war die Marxsche Diktatur des Proletariats auch so etwas wie eine über das Proletariat verhängte Beaufsichtigung, die fortwährend Selbstprüfung und notfalls Selbstzüchtigung anmahnte. Die Unzulänglichkeiten im Alltag der neuen Gesellschaft und die Skepsis der Bürger erneuerten unablässig die Gefährdung der Macht und ihren Führungsanspruch. Da die Entwicklung in die klassenlose Zukunft gesetzmäßig verläuft, so das Dogma, konnten und durften Fehl- und Rückschläge nur das Werk des äußeren Feindes im Zusammenspiel mit bewußter oder unbewußter innerer Komplizenschaft sein. Machtsicherung bedeutete deshalb vor allem ideologische Indoktrination, Parteilehrjahr als Pflichtfach, ausschließlich zur Propaganda bestimmte Massenmedien, verdeckte und offene Zuträgerei, die im Stasiismus kulminierte.

Gewiß, die menschenschinderischen wie geisttötenden Auswüchse dieser Art von Machtausübung sind stalinistischer Machart. Doch ist an die Frage Ernst Blochs zu erinnern: Hat der Stalinismus den Sozialismus zur Unkenntlichkeit verzerrt oder zur Kenntlichkeit gebracht?

Auch hier greift meines Erachtens zu kurz, wer bei Stalin schon die Wurzel des Übels zu packen glaubt. Damit wird das Problem auf einen Gegenstand der Psychiatrie reduziert. Tatsache ist, daß Marx in seinen kritischen Randglossen zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie (1875), also kurze Zeit nach dem tragischen und blutigen Ende der Pariser Kommunarden, den Begriff der Diktatur des Proletariats als des Staates der Übergangsperiode zum Kommunismus in die Welt gesetzt hatte. Kommentare lieferte er so gut wie keine dazu. Was das für ein Ding war, blieb Lenin auszugestalten überlassen. Die verschwommene Marxsche Vorstellung vom Staat, der nach "Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft" überflüssig wird und wie Schnee in der Märzsonne schwindet, stellte sich in der Praxis der Revolution jedenfalls als utopische Blauäugigkeit heraus. Mit der "Diktatur des Proletariats" ließ sich nicht weniger marxgetreu aber wirksamer dem Widerstand der entmachteten Ausbeuter wie der Trägheit der Masse beikommen. Die Utopie, die die existierende Gesellschaft in toto, nicht stück-und nicht schrittweise, ablösen will, kann dies nur umsturzhaft, gewaltsam bewerkstelligen. Insofern wohnt ihr objektiv die Tendenz zur Diktatur inne, die sich zu grausamer und despotischer Realität auswächst, um sich auf Dauer zu etablieren.


Kollektivismus und Individuum

Verhängnisvoll ist die marxistische Sicht auf die (scheinbar kollektiven) sozialen und individuellen Menschenrechte. In der Tat sind sie unteilbar, und die einen wiegen nicht schwerer und nicht leichter als die anderen. Das in der DDR installierte System, das die Ersteren für die wichtigeren, die zweiten für inferior hielt, ignorierte, daß jegliches Menschenrecht stets und vor allem individuelles Recht ist. Nur als solches ist es erfahrbare Realität. Das Recht auf Arbeit bleibt Sklavenpflicht, wenn ihm nicht das Recht auf Freizügigkeit zur Seite steht. Wem es verweigert wird, eine eigene politische Meinung zu haben, der wird früher oder später wegsprengen, was ihn einzwängt.

Wer individuelle Rechte als das ausschließliche Maß der Freiheit versteht, unterliegt nicht weniger einem fatalen Irrtum. Eigene Freiheit und Würde enden oder scheitern dort, wo sie sich der des Nachbarn oder Mitbürgers bemächtigen wollen oder sie einfach schmälern. Individuelle Freiheit ohne soziale Verantwortung gefährdet deshalb den gesellschaftlichen Konsens. Eine lebensfähige moderne Gesellschaft braucht soziale Solidarität und Ausgewogenheit ebenso wie die heilsame Destabilisierung politischer Strukturen, die zu Verfestigung und Filz neigen, durch die große Unbeständige, die Demokratie.

In der Summe läuft jedoch alles darauf hinaus, daß eine Gesellschaftsidee, die die Rolle des Individuums niedriger veranschlagt als das erstrebte Gemeinwohl eines abstrakten Menschheitsbegriffes, in sich unsinnig ist. Ihre innere Logik muß sie zu Inhumanität und Verbrechen treiben. Sie ignoriert, daß die Menschheit entmenschlicht wird, wenn der einzelne, um ein Bild bei Arthur Koestler auszuleihen, nur der Quotient von 5 Milliarden durch 5 Milliarden ist. Menschenmassen kann man vielleicht zu Hysterie verführen oder auch in Kriegen umbringen. Aber Glück, Sicherheit, Geborgenheit, Würde haben, fühlen oder erfahren kann doch nur der Einzelne. Die Utopie, die idealistische Engführung der Realität, droht nicht erst zum Prokrustesbett zu entarten. Die sich realisierende Utopie in Gestalt der sozialistischen Gesellschaft ist das Prokrustesbett, in dem das Individuum ohne Rücksicht auf seine gewachsene Anatomie auf ein fragwürdiges, "passendes", erlaubtes Maß zurechtgemöbelt wird.


Eine falsche Ratio

Zentralistische Diktatur war die Folge, mehr noch der Fluch der Vergesellschaftung der materiellen Grundlagen der Gesellschaft, insbesondere der Produktionsmittel. Wir waren so verteufelt sicher, daß wir auf diese Weise bessere Brötchen für die Menschen der sozialistischen Epoche backen würden, ohne die Verluste, die Markt und Konkurrenz verursachen. Wie das zu bewerkstelligen sei – "Rezepte für die Garküche der Zukunft" nannte Engels ironisch solche Erwartung – hatten Marx und Engels nicht mitgeliefert. Wir verließen uns auf eine Art marxistischer Teleologie, die Heils-Allmächtigkeit des Ziels wird auf dem Weg dorthin schon die Formen hervorbringen, die dafür gebraucht werden. So war es eigentlich und im Gegensatz zu dem bekannten Wort keine schlafende sondern eine geschäftige Ratio, eine sozial und human drapierte Vernunft, die Ungeheuer gebären sollte. Aber auch dies berührt m.E. nur die Oberfläche des marxistischen Dilemmas.

Der Marxismus und nicht erst sein giftiger Trieb, der Stalinismus, litt an einer genetischen Anomalie. Einerseits proklamierte er die unbegrenzte Erkenntnisfähigkeit menschlichen Geistes. Das half ihm, die Decke der Unveränderlichkeit abzustreifen, die der konservative Zeitgeist über soziale Institutionen gebreitet hatte. Andererseits beanspruchte er, über ein eigenes, das einzig wahre Endzeitwissen zu verfügen. Die kommunistische Eschatologie galt nur keinem Mysterium, sondern war auf höchster Stufe der Sieg der Vernunft in Gestalt einer Gesellschaft der Gleichen und der Freien durch den gemeinsamen Besitz am produktiven Eigentum. Es sei dies wissenschaftliche Voraussicht, meinten die Verfechter der Vision. Denn ihr lägen die Gesetze der Gesellschaftsentwicklung zugrunde, die die Klassiker aus der bisherigen Geschichte, also aus dem Entstehen und Vergehen früherer Gesellschaftsformationen gefiltert haben. Heute sage ich mir, daß aus der Pathologie von hundert Leichnamen nicht zu schließen ist, wie man einen Homunculus herstellen kann. Folglich war, was sich als qualitativen Gegensatz zu allen bisherigen utopischen Vorstellungen, eben als wissenschaftliche Voraussicht empfahl, auch nur eine verführerische Hypothese, eine unbewiesene Spekulation, ein Mythos.

Die Identität von Marxismus und Rationalität war ein Selbstbetrug. Der hermetische Charakter dieser Weltanschauung, der jegliches andere Denken nicht zuließ und in die irrationale Ecke verbannte, offenbarte die eigene Irrationalität. Sie verriet sich auch in der Weigerung, Irrationalität als einen unabschaffbaren Teil menschlichen Wesens zu begreifen. Sie hat ja auch eine existenzbewahrende Aktion, indem sie zuläßt, Unbegreifbares hinzunehmen und ihm nicht mit unzulänglichen Erkenntnisinstrumentarien beizukommen.

In der falschen Ratio liegen die tiefsten Wurzeln für das kommunistische Fiasko.



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