Gerhard Streminger

Markt, Motive, moralische Institutionen

Zur Philosophie Adam Smiths(*)

Überarbeitete Fassung März 2004

(Zuerst veröffentlicht in "ARCHIV FÜR GESCHICHTE DER PHILOSOPHIE". 74. Band 1992 Heft 3,
hg. v. Rainer Specht, Verlag Walter De Gruyter, Berlin - New York, S. 272-302)


Im Gesellschaftsmodell Adam Smiths werden sowohl dem Markt als auch dem Staat gewisse Aufgaben zugesprochen. Um welche es sich dabei handelt, ist seit der Veröffentlichung des berühmten Wealth of Nations im Jahre 1776 Gegenstand der Diskussion. In dreizehn Abschnitten möchte ich eine Klärung dieser Frage versuchen.

 

Abschnitt 1

Smith wurde häufig – und das wohl zu Recht – der Vorwurf gemacht, dass in seinem umfangreichen Wealth of Nations eine Theorie menschlicher Bedürfnisse fehle. Aber in den Lectures on Jurisprudence, dem dritten Teil seines Kurses über Moralphilosophie, den er aus Gesundheitsgründen nicht mehr publizieren konnte (und von dem nur Vorlesungsmitschriften erhalten geblieben sind), findet sich eine solche Theorie.(1) Ihr Inhalt ist folgender:

Zwar besitzen Menschen Fähigkeiten, die sie allen anderen Lebewesen überlegen machen, und doch sind sie "sehr viel hilfloser". Denn während andere Lebewesen den Temperaturen ihrer Umgebung angepasst sind, müssen Menschen sich bekleiden und sich "ein Haus bauen". Während Tiere ihre Nahrung so vorfinden, wie es für sie am besten ist, müssen Menschen sie mit Feuer zubereiten. Diese Grundbedürfnisse (essen, wohnen, sich bekleiden) können zwar häufig befriedigt werden, aber die Zunahme der Bevölkerung macht die Versorgung sogleich schwierig. Überdies sind Menschen mit einem "rauhen und nachlässigen" Leben unzufrieden und suchen nach eleganteren Lebensformen. Nach Smith sind Menschen "die einzigen Lebewesen auf Erden", die Unterschiede in den Dingen bemerken, die mit der Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse unmittelbar gar nichts zu tun haben. So wird Farbe ein "Gegenstand der Beachtung" und "Seltenheit macht wertlose Dinge zu sehr geschätzten Objekten".

Smith betonte also in seiner Theorie der menschlichen Bedürfnisse die menschliche Bedürftigkeit, nämlich die physische Empfindlichkeit und die anderen Lebewesen unbekannte ästhetische Empfindsamkeit. Unter >ästhetischer Empfindsamkeit< versteht Smith in diesem Zusammenhang: die Freude an Ausgefallenem, an Seltenem, an Luxusartikeln.(2)

 

Abschnitt 2

Aus der Notwendigkeit heraus, die Bedürfnisse einer sich ständig vergrößernden Bevölkerung unter dem Druck knapper Ressourcen zu decken, entstanden verschiedene Wirtschafts- und Gesellschaftsformen. Auch Smiths Naturgeschichte dieser Entwicklung, die für ein Verständnis des Wealth of Nations zentral ist, findet sich ausgeführt nur in den Lectures on Jurisprudence.(3)

Kern der Smithschen Wirtschaftsstufenlehre ist folgender: Menschen ernährten sich zunächst von "wilden Früchten und Tieren". Als die Bevölkerung zunahm, wurde jedoch das Sammeln von Früchten und die Jagd wilder Tiere für den Unterhalt "zu unsicher". Menschen begannen deshalb Vorräte anzulegen, was aber nur in geringem Umfang und nur für begrenzte Zeit möglich war. Also zähmten sie Tiere, indem sie ihnen "besseres Futter, als diese selbst finden konnten", gaben. Da die Zähmung von Tieren wesentlich einfacher als die Zucht von Getreide ist, folgte dem Zeitalter der Jäger und Sammler das der Hirten. Es war also das Fleisch ihrer Herden, von dem Menschen sich ernährten, als Früchte und wilde Tiere zur Ernährung nicht mehr ausreichten.

Nahm die Bevölkerung weiter zu (und damit erneut Mangel und Not), so waren selbst Viehherden nicht mehr ausreichend, weshalb Menschen sich "der Kultivierung des Bodens und der Zucht solcher Pflanzen und Bäume zuwandten, die für sie geeignete Nahrung lieferten". Die Hirtenkultur ging damit langsam in eine Ackerbaukultur über. Da die Kultivierung des Bodens aufgrund der Verschiedenartigkeit der Pflanzen immer komplizierter wurde, teilte sich die Arbeit auf. Hatte bislang ein jeder alles, was er benötigte, selbst hergestellt, so gingen nun einige auf die Jagd, während andere sich um die Herde kümmerten und dritte das Feld bebauten.(4) Den Überschuss, den sie produzierten, tauschten sie untereinander aus und bekamen "dafür die Güter, die sie benötigten und die sie selbst nicht produzierten." Dieser Gütertausch dehnte sich mit der Zeit nicht nur zwischen den Individuen derselben Gemeinschaft, sondern auch zwischen verschiedenen Völkern aus. Um den Tausch zu erleichtern, übernahm alsbald ein eigener Berufsstand diese Tätigkeit. Als viertes Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung entstand somit die Händlerkultur.(5)

 

Abschnitt 3

Nach Smith sind die verschiedenen menschlichen Grundbedürfnisse nicht gleich wichtig, da einige nur befriedigt werden können, wenn andere bereits befriedigt sind. So müssen die Bedürfnisse nach Nahrung, Wohnung und Bekleidung vor den Wünschen nach Luxusartikeln gedeckt werden.(6) Obwohl also Menschen von Natur aus auch ästhetische Wesen sind, ist das Bedürfnis nach Schönem sekundär gegenüber körperlichen Bedürfnissen.

Nun gewährleistet die Abfolge der vier Stufen (Jäger, Hirten, Bauern, Händler) am ehesten, dass zunächst die körperlichen und dann erst die ästhetischen Bedürfnisse befriedigt werden. Weil dem so ist, behauptet Smith eine >natürliche<, und das heißt: eine bestmögliche ökonomische Entwicklung.(7) "Nach dem natürlichen Lauf der Dinge", so schreibt er, "wird [...] in jedem sich entwickelnden Land das Kapital zunächst überwiegend in die Landwirtschaft, später ins Gewerbe und zuallerletzt in den Außenhandel gelenkt. Diese Ordnung ist so natürlich, dass sie in jedem Land, wie ich glaube, in gewissem Grade befolgt wurde." (W 314)

Am wenigsten wurde diese Ordnung aber in weiten Teilen Europas befolgt, wo sich zuerst das Luxus produzierende Gewerbe und der Fernhandel entwickelten und es erst dann zu Fortschritten in der Landwirtschaft kam. Das dritte Stadium der natürlichen ökonomischen Entwicklung, also die Ackerbaukultur, wurde gleichsam übersprungen.(8) Warum dem so war, untersucht Smith im dritten, dem wohl am wenigsten beachteten Buch des Wealth of Nations:

Durch die Wirren im Zusammenhang mit der Völkerwanderung wurde der Handel zwischen Stadt und Land unterbrochen. Die Stammesfürsten der indogermanischen Völker wurden die neuen Großgrundbesitzer der brachliegenden Felder. Das bei ihnen übliche Recht der Erstgeburt verhinderte jedoch eine Aufteilung des Bodens: Während den Römern der Boden nur als ein Mittel zum Lebensunterhalt galt, wurde er für diese Fürsten zum sichtbaren Ausdruck von Macht. Das Recht der Erstgeburt und die Idee vom Boden als Machtmittel (noch zentral im Fideikommiss) blieb bestimmend für den Feudalismus, was ausgesprochen negative Folgen hatte, und zwar für den feudalen Großgrundbesitzer selbst und für die Landwirtschaft. "Von Kindheit an", so schreibt Smith, ist der Großgrundbesitzer "daran gewöhnt, um die Eleganz seiner Kleidung, seiner Kutsche, seines Hauses und seiner Möbel besorgt zu sein. Diese Einstellung [...] verlässt ihn auch nicht, wenn er über die Verbesserung des Bodens nachdenken sollte. Er verschönert vielleicht 400 oder 500 Morgen Land in der Umgebung seines Hauses mit einem Aufwand, der zehnmal so hoch ist, wie das Land danach wert ist." (W 318)(9)

Zwar lag das übrige Land nicht gänzlich brach, aber es wurde von Menschen bebaut, die wie Sklaven behandelt wurden und die auch kein Recht besaßen, Boden zu erwerben. Da es nicht in ihrem Interesse war, zu arbeiten (ihnen ging es nicht wesentlich besser, wenn sie mehr taten), mussten sie zur Arbeit gezwungen werden. Die Folge dieser Entwicklung waren endlose Konflikte und Hungersnöte.(10)

 

Abschnitt 4

Ähnlich verlief nach Smith die Entwicklung der Städte: Wegen der Ereignisse im Zusammenhang mit der Völkerwanderung waren ihre Bewohner praktisch von der Versorgung abgeschnitten. Die Städter lebten im "nahezu gleichen Status der Leibeigenschaft" wie Bauern: Als "Höker und Hausierer" pflegten sie "mit ihrem Wagen von Ort zu Ort und von Markt zu Markt zu ziehen." (W 325)

Aber sie erlangten ihre Freiheit schneller als die Bauern, weil sie durch den Handel mit Luxusgütern früher etwas Reichtum erlangten. Bei Bedarf borgten die Städter den Grundherrn Geld und erkauften sich damit Rechte: das Recht auf freien Handel oder das Recht, sich in Körperschaften zusammenzuschließen. Diese Entwicklung war häufig jedoch nur möglich, weil es neben den Großgrundbesitzern noch den Landesherrn oder König gab, dessen Interessen sich mit denjenigen der Bürger trafen. Denn beide, Bürger und König, "hassten und fürchteten" (W 328) die Grundherren und verbündeten sich gegen sie. Unter dem Schutz des Königs begannen einige Städte zu florieren, während anderen die Kreuzzüge ungeahnten Reichtum verschafften, da sie ihre Schiffe den bewaffneten Wallfahrern zur Verfügung stellten: "So verderblich der Wahnsinn auch für die europäischen Völker war, für die Stadtrepubliken bedeutete er eine Quelle des Reichtums." (W 331)

Der Wohlstand der Städter förderte zumindest auf dreierlei Weise die Entwicklung der Landwirtschaft: 1. Für Rohstoffe und Agrarprodukte "waren die Städte ein großer und aufnahmefähiger Markt und gaben so ständig Impulse für die weitere Entwicklung". Es wurde also allmählich für Adelige interessant, ihre Felder sorgsam kultivieren zu lassen. 2. Gelegentlich war es vermögenden Städtern, gleichsam deren >Patriziern<, erlaubt, auf dem Land Grundbesitz, zumeist Brachland, zu erwerben. Da sie bereits gelernt hatten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse des Marktes zu investieren, kultivierten sie "in der Regel" den Boden am besten, während ihn Landedelleute "vorwiegend als Mittel zum Aufwand" zu betrachten pflegten.(11) 3. Handel und Gewerbe "führten nach und nach zu Ordnung und guter Verwaltung, wodurch auch Freiheit und Sicherheit der Bürger untereinander im ganzen Land zunahmen. Früher lebte man fast immer in dauerndem Kriegszustand mit den Nachbarn und in sklavischer Abhängigkeit vom Grund- oder Dienstherrn."(12)

Zu Ordnung führte der Handel durch die Aufteilung der Macht; und zu Freiheit durch das Entstehen neuer Sozialbeziehungen. In einer entwickelten Marktwirtschaft sind nämlich Handwerker und Händler nicht mehr wie Höflinge und Pächter von einem Adeligen abhängig, da sie ja nicht mehr von einem einzigen Kunden, sondern von vielen leben; und Konsumenten wiederum besitzen mehr Freiheit, weil sie nicht mehr gezwungen sind, in einem bestimmten Geschäft einzukaufen. In weiten Teilen Europas waren also Handel und Gewerbe nicht die Wirkung, sondern die Ursache des Fortschritts in der Landwirtschaft.(13)

Die Adeligen verloren ihre Macht wegen ihrer durch besondere Umstände weit überzogenen Eitelkeit. Sie verkauften sie für "Tand und Flitter, der eher zum Spielzeug für Kinder als zum ernsten Geschäft erwachsener Männer passt". (W 339 f.) Alles das, "was bei der totalitären Feudalherrschaft völlig undenkbar war, brachte nach und nach der stille und unmerkliche Einfluss des Außenhandels und des Gewerbes mit sich." (W 338) Die einen frönten ihrer "äußerst kindischen Eitelkeit", und die anderen handelten "nach ihrem Hausierergrundsatz: Jeden Pfennig umdrehen, bevor man ihn ausgibt. Keiner [...] erkannte die große Umwälzung oder sah sie voraus, welche die Torheit der einen und der Gewerbefleiß der anderen allmählich mit sich brachten". (W 340) Zwei Bevölkerungsgruppen, "die nicht im mindesten die Absicht hatten, dem Allgemeinwohl zu dienen", lösten somit eine Revolution von größter Bedeutung für die Wohlfahrt aller aus. Diese Entwicklung ging jedoch ungemein langsam und mit großen menschlichen Opfern vor sich, da sie nicht "dem natürlichen Lauf der Dinge" entsprach. (W 340)

 

Abschnitt 5

Ich fasse die bisherigen Ausführungen kurz zusammen: Smith geht davon aus, dass es menschliche Grundbedürfnisse gibt und dass einige wichtiger sind als andere. Die Wünsche nach Nahrung, Wohnung und Bekleidung sind fundamentalere Grundbedürfnisse als das ebenfalls >natürliche< Bedürfnis der Menschen nach Ausgefallenem. Denn erst dann, wenn Menschen genug zu essen haben, sich bekleiden und wohnen können, kann das Bedürfnis nach Schönem realisiert werden. In einer natürlichen ökonomischen Entwicklung werden die Bedürfnisse der Menschen in der Abfolge ihrer Bedeutung befriedigt, insbesondere floriert die Landwirtschaft vor den Luxus produzierenden Gewerben und dem Fernhandel. Obwohl eine solche ökonomische Entwicklung die bestmögliche wäre, ist sie keineswegs selbstverständlich, denn Vorstellungen über die Organisation der Gesellschaft üben einen entscheidenden, in diesem Fall: verheerenden Einfluss aus. So schufen Handlungen, denen Ideen vorausgingen, die zu einem früheren Zeitpunkt vielleicht angemessen waren (etwa die Primogeniturordnung zur Zeit der Völkerwanderung), in Europa eine katastrophale wirtschaftliche Situation: Die auserwählte Stellung des Erstgeborenen steigerte seine Eitelkeit und seine Sucht nach Präsentation und verhinderte eine Parzellierung des Bodens und damit die Entwicklung der Landwirtschaft.(14)

Es gibt also nach Smith eine natürliche ökonomische Entwicklung, und es gibt verhängnisvolle, auf falschen Ideen basierende Einflüsse auf den Wirtschaftsprozess. Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres, bemerkenswertes Phänomen, das Smith das >Wirken der Unsichtbaren Hand< nennt: Trotz verhängnisvoller Eingriffe in den Wirtschaftsprozess führten die Marktmechanismen langfristig zu einem der natürlichen ökonomischen Entwicklung ähnlichen Zustand. Smith erläutert dies wiederum am Beispiel Europas: Obwohl Grundbesitzer dies nicht beabsichtigt hatten (ihnen lagen nur ihre eigenen Interessen am Herzen), verbesserten sie schließlich doch auch die Situation anderer. Unbeabsichtigte Folgen absichtsgeleiteten Handelns, so ließe sich diese Theorie vom Wirken der Unsichtbaren Hand zusammenfassen, führten in diesem Fall zu einem Zustand der Gesellschaft, der für die meisten Menschen besser als die Absichten der Handelnden war.(15)

 

Abschnitt 6

Aus dieser Beobachtung folgert Smith jedoch nicht (wie in vielen Interpretationen seiner Philosophie angenommen wird), dass die Unsichtbare Hand des Marktes schlussendlich stets alles zum Guten wendet. Die spektakulärste Ausnahme diskutiert Smith, der eben kein Marktfundamentalist war, in seiner Analyse der Vor- und Nachteile der Arbeitsteilung in der modernen Gesellschaft.

Er geht dabei von folgender Überlegung aus: Gegenüber früheren Phasen der Gesellschaft hat in der Händlerkultur die Arbeitsteilung weiter zugenommen. Durch die Segmentierung des Arbeitsprozesses konnte die Produktion derart gesteigert werden, dass die materiellen Grundbedürfnisse aller spielend gedeckt werden können.(16) Denn die Arbeitsteilung hat fünf Vorteile: 1. die größere Geschicklichkeit der Arbeiter (weil sie sich auf eine Tätigkeit konzentrieren können(17)), 2. die Zeitersparnis (weil Arbeiter ihren Arbeitsplatz nicht verlassen müssen), 3. die Möglichkeit des Einsatzes von Maschinen, 4. die Verwirklichung eigener Begabungen (denn nur in einer arbeitsteilig organisierten Marktwirtschaft können Menschen sich auf eine Tätigkeit beschränken, weshalb große Kulturen dort entstanden sind, wo ein größerer Markt existierte: am Meer oder an großen Flüssen(18)), und 5. die durch wirtschaftliche Verflechtung geschaffene internationale Abhängigkeit wird, so hofft Smith, einmal zu einem dauerhaften Frieden führen. Ohne dass Menschen dies beabsichtigten, als sie die Arbeit teilten (allein das Selbstinteresse war ausschlaggebend), eröffneten sie diese Möglichkeit. Auch hinter dieser Wirkung des Marktes sieht Smith die wohltätige Unsichtbare Hand.(19)

Die Arbeitsteilung besitzt also bedeutende Vorteile, allerdings ist der dafür zu entrichtende Preis hoch: "Mit fortschreitender Arbeitsteilung wird die Tätigkeit [...] der Masse des Volkes nach und nach auf einige wenige Arbeitsgänge eingeengt, oftmals nur auf einen oder zwei. Nun formt aber die Alltagsbeschäftigung ganz zwangsläufig das Verständnis der meisten Menschen. Jemand, der tagtäglich nur wenige einfache Handgriffe ausführt, [...] verlernt, seinen Verstand zu gebrauchen". Er wird "stumpfsinnig und einfältig, wie ein menschliches Wesen nur eben werden kann. Solch geistlose Tätigkeit beraubt ihn nicht nur der Fähigkeit, Gefallen an einer vernünftigen Unterhaltung zu finden oder sich daran zu beteiligen, sie stumpft ihn auch gegenüber differenzierteren Empfindungen wie Selbstlosigkeit, Großmut oder Güte ab, so dass er auch vielen Dingen gegenüber, selbst jenen des täglichen Lebens, seine gesunde Urteilsfähigkeit verliert". In diese Lage "gerät die Masse des Volkes in jeder entwickelten Gesellschaft."(20)

Diejenige Gesellschaftsform, die die materiellen Grundbedürfnisse aller spielend deckt, führt gleichzeitig zur geistigen Verelendung der Arbeitenden. Die Vorteile der Arbeitsteilung sind also keineswegs auf alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig verteilt.(21) Abgesehen von dieser Ungerechtigkeit sah Smith in der negativen Folge der Arbeitsteilung zudem die größte Bedrohung für die Demokratie: Weil die Regierenden nicht mehr kontrolliert werden, gewinnen feudal-autoritäre Strukturen erneut an Einfluss, wodurch Freiheit und Ordnung verloren gehen und damit, in weiterer Folge, auch die Möglichkeit zu einem dauerhaften Frieden.

 

Abschnitt 7

Während also Smith zum einen beobachtet, dass es nicht-intendierte Konsequenzen menschlichen Handelns gibt, die zu einem besseren gesellschaftlichen Zustand führen, als es die Absicht der Handelnden war, so beobachtet er zum anderen, dass es Konsequenzen menschlichen Handelns gibt, die schlechter als die Absichten der Menschen sind: Denn als diese begannen, die Arbeit zu teilen, wollten sie zwar ihre Grundbedürfnisse decken, aber weder sich noch einen Großteil ihrer Mitmenschen verdummen. Die geistige und psychische Verkümmerung der Arbeiter in der modernen Gesellschaft ist ebenfalls eine ungeplante, wiewohl unerwünschte Folge menschlichen Handelns. Während also im einen Fall die Unsichtbare Hand des Marktes die verschiedenen Antriebe zu einem besseren Ganzen ordnet, greift sie in diesem Fall daneben.

Hinter der Formel von der Unsichtbaren Hand des Marktes verbirgt sich also kein naiver Optimismus, in der besten aller möglichen Welten zu leben; und es verbirgt sich hinter der Smithschen Kritik gerade auch kein Calvinismus, demzufolge sich Auserwähltheit im gesellschaftlichen Erfolg offenbare und es folglich einen Eingriff in Gottes weisen Ratschluss bedeute, die weniger Erfolgreichen zu unterstützen. In der Beseitigung der negativen Folgen der Arbeitsteilung sieht Smith eine der Hauptaufgaben des modernen Staates. Die sichtbare Hand des Staates muss hier der Unsichtbaren Hand des Marktes beistehen, weil diese zu keinem bestmöglichen Ergebnis führt. Das Mittel dazu ist nach Smith die Schaffung eines vorzüglichen, allen zugänglichen Bildungssystems (W 665 f.). In seinem Gesellschaftsmodell, das er "natürliches System vollkommener Freiheit und Gerechtigkeit", einmal sogar: "die liberale Ordnung von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit" (W 606, 664) nannte, hat der Staat die Verpflichtung, durch Bildung und Aufklärung im weitesten Sinn die negativen Folgen der Arbeitsteilung zu mildern.

Das vierte Stadium der gesellschaftlichen Entwicklung ist Smith zufolge nur der Möglichkeit nach das fortschrittlichste: "Reichtum und Handel gehen gewöhnlich der Verbesserung der Künste und jedweder Verfeinerung voraus. Ich meine nicht, dass die Verbesserung der Künste und die Verfeinerung der Sitten die notwendige Konsequenz des Handels ist, [...] sondern nur, dass dieser eine notwendige Bedingung ist." (J 137) Der Reichtum der Nationen ist notwendig, nicht aber hinreichend für ihren Wohlstand. Ökonomische Betätigung auf der Basis des Privatinteresses galt Smith nicht als Endzweck menschlicher Existenz, sondern lediglich als ein notwendiges, existenzsicherndes Mittel mit dem Ziel einer aufgeklärt-humanen Lebensführung. In der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft sah Smith, um einmal die berühmte Terminologie Hegels zu gebrauchen, die >List der Vernunft< zwar am Werk, nicht aber die Vernunft auch schon verwirklicht. Smith lebte am Beginn der industriellen Revolution. Mit der Einführung der Dampfmaschine verließen immer mehr Arbeiter das Land und suchten Arbeit in den Fabriken. Smith war sich der ungesunden und demoralisierenden Wirkungen der Fabrikarbeit bewusst und drängte die Regierung, tätig zu werden, insbesondere auf dem Gebiet der Erziehung.

 

Abschnitt 8

Die wünschenswerten Aufgaben des Staates erschöpfen sich jedoch nicht in der Errichtung von Schulen, in der Förderung der verschiedenen Wissenschaften und Unterhaltung. Weitere Aufgaben sind nach Smith folgende:

a. Der Staat soll durch die Abschaffung von Privilegien, wie sie beispielsweise die Zünfte besaßen, den Wettbewerb fördern, da eine Privilegienwirtschaft nach Smith sowohl ökonomisch als auch moralisch bedenklich ist. Moralisch bedenklich ist sie deshalb, weil einige Mitglieder des Gemeinwesens gegenüber anderen bevorzugt werden, aber der Staat ist nach Smith zur Befolgung allgemeiner Ziele verpflichtet. In der Wirtschaftspolitik des Merkantilismus ist dies gerade nicht der Fall, da anstelle der Allgemeinheit besondere Gruppen der Bevölkerung bereichert werden: "Werden die Interessen irgendeines Standes nur deshalb mehr oder weniger beeinträchtigt, um die eines anderen zu fördern, so widerspricht das augenfällig der gerechten und gleichen Behandlung, die der Landesherr allen Untertanen schuldet ."(22) Der Merkantilismus ist aber nur der eine Gegner Smiths. Auf der anderen Seite steht das System der Physiokraten, dessen Beschränkung auf eine bestimmte Klasse von Produzenten, nämlich die landwirtschaftlich Tätigen, ähnlich kritisiert wird: "Der entscheidende Irrtum dieses Systems scheint allerdings darin zu liegen, dass es die Klasse der Handwerker, der in einem Gewerbe Tätigen und der Kaufleute für völlig steril und unproduktiv hält." (W 571) Aus ökonomischen Gründen ist eine Privilegienwirtschaft deshalb abzulehnen, weil sich auf diese Weise die natürlichen Vorteile eines Landes selten durchsetzen können, was langfristig zu einem Rückgang im gesamten Tauschwert des Landes führt. Smith gibt dazu folgende Illustration: Auch in Schottland lassen sich in "Treibhäusern, Mistbeeten und mit erwärmtem Mauerwerk" gute Trauben ziehen und sich daraus sehr gute Weine keltern, nur werden diese "etwa dreißigmal soviel kosten wie ein zumindest gleich guter aus dem Ausland." (W 373) Das Geld, das für die Produktion des Weins benötigt wurde, wird dann dort fehlen, wo Schottland gegenüber anderen Ländern natürliche Vorteile besitzt, etwa im Fischfang oder in der Schafzucht. Können die natürlichen Vorteile der verschiedenen Länder frei wirken, dann werden die Warenpreise möglichst gering (und damit für die allermeisten erschwinglich) sein.(23)

b. Die Behauptung, dass sich der Staat als Unternehmer oder Verteiler von Privilegien aus dem Wirtschaftsbereich möglichst zurückziehen sollte(24), bedeutet jedoch keinesfalls, dass eine Wirtschaftspolitik unnütz wäre. Smith nennt – neben der Förderung des Wettbewerbs – eine ganze Reihe wirtschaftspolitischer Maßnahmen: Der Staat muss die Einhaltung von Verträgen erzwingen (W 83); ihm gebührt das Privileg der Münzprägung (W 460); die Besteuerung soll die produktive Verwendung des Kapitals forcieren (W 708 f.); der Staat soll den Kreditzins regulieren und verhindern, dass er über 5% steigt (W 294 ff.); riskante Unternehmen können der staatlichen Förderung wert sein (W 641 f.); die Regierung kann Steuern als vorübergehende Vergeltungsmaßnahme erheben und auch die Einführung der Handelsfreiheit verzögern, um einheimische Gewerbe und Arbeitskräfte zu schützen (W 382 f.); der Staat kann Prämien für außergewöhnliche erfinderische Leistungen aussetzen und muss sich insbesondere um die Schaffung jener öffentlichen Anlagen und Einrichtungen kümmern (W 612 ff.), wozu Privatleute nicht imstande sind, weil der Gewinn die Kosten nicht decken würde (W 582): Brücken, Wege, Botschaften, wodurch Handel und Verkehr gefördert werden. (W 612 ff.)

Ziel einer >vernünftigen< Wirtschaftspolitik ist also die Schaffung eines Klimas, in dem die verschiedenen Initiativen von Individuen gefördert, aber auch behutsam in eine bestimmte Richtung gelenkt werden. In Smiths vielzitiertem "einfachen System der Freiheit", das nur bei oberflächlicher Lektüre einfach ist, wird keiner unbestimmten Willkür das Wort geredet. "Man könnte einwenden", schreibt Smith, "es sei eine handfeste Verletzung der persönlichen Freiheit, die das Gesetz ja im Grunde schützen anstatt einschränken sollte, wenn ein Privatmann daran gehindert wird, Promessen eines Bankiers in beliebiger Höhe in Zahlung zu nehmen. obwohl er es gern möchte, oder einem Bankier zu verbieten, solche Banknoten auszugeben, obwohl alle Kunden sie annehmen würden. Solche Vorschriften mögen, ohne Zweifel, in gewisser Hinsicht als eine Verletzung der persönlichen Freiheit betrachtet werden, doch wenn einige wenige dieses Naturrecht so ausüben, dass sie die Sicherheit des ganzen Landes gefährden können, so schränkt jede Regierung. die liberalste wie die diktatorischste, dieses Recht gesetzlich ein, und zwar ganz zu Recht. Auch die Vorschrift zum Bau einer gemeinsamen Brandmauer, um das Übergreifen von Feuer zu verhindern, verletzt die persönliche Freiheit genau auf die gleiche Art wie das hier vorgeschlagene Bankgesetz.(25)

c. Bis der Weltfrieden gesichert ist, muss sich der Staat um die Verteidigung des Landes kümmern; ebenso hat er Bürger gegen Feinde von innen zu schützen. Militär, Legislative und Exekutive sollen dabei voneinander unabhängig, also gewaltenteilig, organisiert sein. Zu den Schutzfunktionen des Staates zählt Smith ausdrücklich den Schutz der Unterprivilegierten, insbesondere den der Arbeiter. Der Staat hat dafür zu sorgen, dass sie sich frei versammeln können und vor Verletzungen am Arbeitsplatz geschützt sind. Zwar ist Smith gegen die Einmischung des Staates in Lohnverhandlungen, "indess nur", wie bereits Carl Menger bemerkte, "insoferne sie sich zum Nachtheile der Arbeiter geltend mache [...] Die staatliche Einmischung zu Gunsten der Armen und Schwachen weist er so wenig zurück, dass er sie vielmehr in allen Fällen billigt, in welchen er von der Einmischung des Staates eine Begünstigung [...] der besitzlosen Volksclassen erwartet."(26)

 

Abschnitt 9

Das Verhältnis von Markt und Staat lässt sich nun wie folgt zusammenfassen: Offenbar ging es Smith auch dabei um Arbeitsteilung. Jedes Mitglied eines Gemeinwesens soll die eigene Lebenslage mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung stehen, und unter den Geboten der Fairness zu verbessern trachten. Indem Unternehmer ihre Ressourcen möglichst effizient einsetzen, um einen Wettbewerbsvorteil zu erzielen, versorgen sie Konsumenten mit einem preiswerteren Produkt. Indem Händler auf Preis- bzw. Nachfragesignale reagieren, fördern sie die Produktion von Gütern, die von Konsumenten gewünscht sind. In dieser Allokation von Gütern und Dienstleistungen spielt der Markt die entscheidende Rolle. Der Staat ist dazu allein aus Informationsmangel nicht imstande und hat sich einer anderen Zwecksetzung verschrieben: Er schafft die Voraussetzungen und Bedingungen, die einzelne benötigen, um in Freiheit ihre Interessen verfolgen zu können – und kümmert sich um Gerechtigkeit. Die Aufgaben des Staates sind: Legislative, Exekutive, Militär, Außenpolitik, Erziehung, Schaffung einer Infrastruktur, spezifische wirtschaftspolitische Maßnahmen, Schutz der Unterprivilegierten – aber Unternehmer soll der Staat nicht sein. Ebenso wenig sollen Kaufleute Staatsmänner sein: Eine Gesellschaft von Kaufleuten ist "offensichtlich unfähig, sich selbst als Landesherr zu begreifen [...] und in seltsamer Verkennung der Tatsachen sehen sie in der Aufgabe des Souveräns bloß ein Anhängsel zu den Pflichten eines Kaufmanns" – etwas, das den Aufgaben des Souveräns jedoch "untergeordnet" werden sollte. (W 538) Smiths ambivalente bis hyperkritische Einstellung gegenüber Grundbesitzern, Politikern und Unternehmern zieht sich wie ein roter Faden durch den Wealth of Nations, aber es findet sich darin keine einzige negative oder gar verächtliche Passage über Arbeiter.

Die klassisch-liberale Staatsauffassung wird zumeist so charakterisiert, dass sie einen >negativen< Staat fordert, der sich auf die Abwehr von Verletzungen der Rechtsordnung beschränkt; und dass die Notwendigkeit des Staates allein in der Erhaltung von Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger liegt (>Mehr privat, weniger Staat<). Aber der Smithsche Staat war kein solcher Nachtwächterstaat, da er eindeutig positive, gestaltende Aufgaben gegenüber der Gesellschaft wahrnimmt. Im Wealth of Nations wird der sichtbaren Hand des Staates eine ganze Reihe von Aufgaben zugesprochen.(27)

Smith sah es als Aufgabe der Jurisprudenz, "jene Regeln, durch die Regierungen geleitet werden sollen", aufzustellen, da "hauptsächlichstes Ziel jeder Regierung die Bewahrung von Gerechtigkeit" ist (J 7). Gerechtigkeit ist notwendig für den Bestand der Gesellschaft. Ohne sie "würde die bürgerliche Gesellschaft ein Schauplatz des Blutvergießens und der Unordnung werden, auf dem jedermann sich mit eigener Hand rächen würde". Um dies zu verhindern, "unternimmt es in allen Staaten, in denen die Regierung eine leidliche Autorität erlangt hat, die Obrigkeit, allen Recht zu verschaffen, und verspricht sie, jede Klage über erlittenes Unrecht anzuhören und zu richten". (T 568) (28)

Obwohl Smith Gerechtigkeit also in einem weiten Sinne forderte, war er sich natürlich dessen bewusst, dass die Freiheit der Bürger durch den Staat allzu leicht in ungerechtfertigter Weise eingeschränkt wird: "Die bürgerliche Obrigkeit ist nicht nur mit der Macht betraut, den öffentlichen Frieden durch Eindämmung des Unrechts aufrecht zu erhalten, sondern auch das Gedeihen des Gemeinwesens dadurch zu fördern", dass sie Vorschriften erlässt, die "bis zu einem gewissen Grade auch gegenseitige gute Dienste anbefehlen [...] Von allen Pflichten eines Gesetzgebers erfordert jedoch vielleicht gerade diese den größten Takt und die größte Zurückhaltung, wenn der Gesetzgeber sie in richtiger und verständiger Weise erfüllen will." (T 120)

 

Abschnitt 10

Obwohl Smith keinen Nachtwächterstaat propagierte (die Aufgaben des Staates also nicht auf Landesverteidigung, Legislative und Exekutive einschränkte, sondern u.a. eine aktive Wirtschafts- und Bildungspolitik forderte), ist die liberale Standardinterpretation seiner Philosophie aus zwei Gründen nicht gänzlich unverständlich(29) : 1. Die Überlegungen zu den Aufgaben des modernen Staates werden erst im letzten Buch des Wealth of’ Nations, also nach etwa 650 Seiten erörtert, und 2. die diesbezüglichen Behauptungen hängen insofern in der Luft, als ethischer Grund und Zweck des Staates im Wealth of Nations kaum näher begründet werden.(30) Die moralische Rechtfertigung der Aufgaben des Staates wird also den Ausführungen über die Aufgaben selbst gleichsam vorgeordnet.

Was aber sind nun Grund und Zweck staatlicher Institutionen? Dass hinter der ökonomischen Aktivität der Individuen ein Antrieb steht, der allen (oder doch den allermeisten) Menschen innewohnt, nämlich der Wunsch, die eigene Situation zu verbessern, bedarf kaum der Begründung. Aber wie können die Aufgaben des Staates moralisch legitimiert werden? Im Wealth of Nations findet sich, wie gesagt, darauf keine überzeugende Antwort (es bleibt dort bei der Erstellung von Forderungen), wohl aber in der Theory of Moral Sentiments, dem wesentlich überarbeiteten zweiten Teil des Kurses über Moralphilosophie. Dort wird eine solche Legitimation gegeben: "Alle Einrichtungen der Regierung und Verwaltung" werden "nur in dem Verhältnis geschätzt, als sie eben die Tendenz haben, die Glückseligkeit derer, die unter ihnen leben, zu fördern. Das ist ihr einziger Nutzen und Zweck." (T 318) Es geht also um die Glückseligkeit der Staatsbürger. Aber worin besteht diese? Smiths überraschende Antwort: Die Glückseligkeit besteht darin, dass Menschen ihre Grundbedürfnisse decken können und moralisch sind. Denn nur moralische Menschen sind – und Smith knüpft hier an antikes, insbesondere platonisches Gedankengut an – auch glücklich. Wie Menschen am besten ihre Grundbedürfnisse befriedigen können, hat Smith im Wealth of Nations zu klären versucht; wann sie moralisch sein können, wird in der Theory of Moral Sentiments geklärt.

Also wann sind Menschen moralisch? Smiths wiederum etwas überraschende Antwort: Wenn sie ihren innersten Antrieben folgen. Weil Smith überzeugt ist, dass es neben den bereits erwähnten Grundbedürfnissen auch Antriebe gibt, die über das Interesse der eigenen materiellen Besserstellung gerade hinausweisen, löst er die Moralität nicht von den Naturtrieben ab. Weil es seiner Ansicht nach etwas Natürliches, wenn auch nichts Selbstverständliches ist, moralisch zu sein, trifft Schillers bekanntes Distichon gegen Kant

"Gerne dien ich den Freunden, doch tu
ich es leider mit Neigung,
Und so wurmt es mir oft, dass
ich nicht tugendhaft bin."

auf Smith mit Sicherheit nicht zu. Vielmehr behauptet er die Existenz einer ganzen Reihe natürlicher Antriebe, die eine Basis für ein moralisches Bewusstsein abgeben (und damit auch für die Aktivitäten des Staates zur Förderung von Gleichheit und Gerechtigkeit). Weil Smith überzeugt ist, dass Antriebe im Menschen über das Interesse der eigenen materiellen Besserstellung gerade hinausweisen, löst er die Moralität nicht von den Naturtrieben ab.

Mit diesem, ebenfalls antikem Gedankengut verpflichteten Menschenbild grenzt sich Smith von zwei Ideologien ab: 1. vom fundamentalistischen Christentum, demzufolge die menschliche Natur aufgrund der Erbsünde völlig verderbt und ohne die Gnade Gottes zur Moralität unfähig ist (Die Erbsünde ist eine heute natürlich wenig plausible Antwort auf die Frage, warum es Vulkanausbrüche und Ungeziefer gibt; denn diese gab es, wenn man der Wissenschaft trauen darf, schon vor den angeblichen Schandtaten der ersten Menschen). 2. Des weiteren grenzt sich Smith von der Hobbesschen Anthropologie ab. Thomas Hobbes hatte den Menschen für rücksichtslos selbstsüchtig und Tugenden und Pflichterfüllungen für Ergebnisse kluger Berechnungen von Wölfen in Menschengestalt erklärt.(31)

 

Abschnitt 11

Diese >natürlichen moralischen Antriebe<(32) sind nun im wesentlichen drei: der Wunsch, mit anderen zu sympathisieren, und das Vergeltungsgefühl und der Wunsch, liebenswert zu sein (also nicht bloß geliebt zu werden, sondern der Liebe auch würdig zu sein).

a. Sympathy. Die ersten Sätze der Theory of Moral Sentiments handeln sogleich von dem zuerst genannten natürlichen Antrieb: Mag man den Menschen "für noch so egoistisch halten, es liegen doch offenbar gewisse Prinzipien in seiner Natur, die ihn dazu bestimmen, an dem Schicksal anderer Anteil zu nehmen". Neben egoistischen Affekten, die sich um die Besserstellung des eigenen Ichs drehen, nehmen Menschen auch am Schicksal anderer teil (ohne gleichzeitig an ihr eigenes Wohlergehen zu denken). Diese Anteilnahme ist nach Smith leicht zu beobachten: "Dass wir oft darum Kummer empfinden, weil andere Menschen von Kummer erfüllt sind, das ist eine Tatsache, die zu augenfällig ist, als dass es irgendwelcher Beispiele bedürfte, um sie zu beweisen". (T 1) Die Anteilnahme an der Situation anderer nennt Smith sympathy. Seiner Meinung nach besitzen Menschen grundsätzlich den Wunsch, mit anderen zu sympathisieren.

Aufgrund des Wunsches nach einem Austausch der Gefühle (der nach Smith ebenso natürlich wie der Wunsch nach einem Tausch von Produkten ist), kommt es zu einer Moralisierung der Affekte; indem wir die Gefühle anderer nachempfinden, wird ein Prozess der >Verallgemeinerung< unserer Affekte in Gang gesetzt.(33) Mittels Sympathie werden die ursprünglichen Antriebe geläutert, was natürlich nicht bedeutet, dass die eigenen Interessen unterdrückt werden sollten (wie ja auch der unparteiische Betrachter, von dem sogleich zu sprechen sein wird, die eigenen Interessen auf eine Stufe mit denen anderer hebt, nicht aber die Interessen anderer über die eigenen stellt): "Die Rücksicht auf unser eigenes Glück und auf unseren persönlichen Vorteil" erscheint in zahlreichen Fällen "als ein sehr lobenswertes Prinzip des Handelns. Charaktergewohnheiten wie Wirtschaftlichkeit, Fleiß, Umsicht, Aufmerksamkeit, geistige Regsamkeit, werden nach allgemeinem Dafürhalten aus eigennützigen Beweggründen gepflegt, und doch hält man sie zugleich für sehr lobenswürdige Eigenschaften, die die Achtung und Billigung eines jeden verdienen." (T 506) Die Sorge um sich selbst ist eine schätzenswerte Tugend, weil der Mensch sich selbst jenen Respekt bezeugt, den er vor jedem menschlichen Wesen haben sollte. Indem ein jeder auf sich selbst achtet, erhält er auch die Gemeinschaft, deren Teil er ist.

b. Vergeltungsgefühl. Sympathie ist allerdings nicht der einzige natürliche Antrieb zur Kultivierung der Gefühle (und wäre wohl auch kaum hinreichend, denn entgegen den Intuitionen Smiths vermag die Sympathie zwar unser gegenseitiges Verständnis zu vergrößern, sie schränkt aber unsere egoistischen Impulse nicht notwendigerweise ein). Ein zweiter Antrieb ist das Vergeltungsgefühl. Es ist dies nach Smith ein allen Menschen gemeinsamer Instinkt, der uns unmittelbar drängt, Böses mit Bösem zu vergelten, also anderen, falls sie Dritten geschadet haben, Leid zuzufügen (beispielsweise durch Freiheitsentzug). Das Vergeltungsgefühl zielt darauf ab, die Gesellschaft um der Gerechtigkeit willen zu verändern. Es richtet sich jedoch nicht nur gegen andere, sondern auch gegen den Handelnden selbst. Habe ich Unrechtes getan, so gibt das Vergeltungsgefühl Anlass zu Gewissensbissen, die das Selbstinteresse kontrollieren und es in Schranken weisen. So ist das Streben nach Verbesserung der eigenen Situation natürlich und richtig und im "Wettlauf nach Reichtum, Ehre und Avancement, da mag er rennen, so schnell er kann und jeden Nerv und jeden Muskel anspannen, um all seine Mitbewerber zu überholen. Sollte er aber einen von ihnen nieder rennen oder zu Boden werfen, werden Gewissenbisse ihn plagen." (T 124) In diesem Fall drängt uns das Vergeltungsgefühl, gewisse Handlungen zu unterlassen, es markiert also die Grenze, bis zu der egoistische Affekte ausgelebt werden können. Oft erfüllen wir "alle Regeln der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit" allein dadurch, dass wir "still sitzen und nichts tun." (T 121) Das Vergeltungsgefühl, das Smith ausdrücklich vom stets unangemessenen Rachegefühl unterscheidet, schützt die Schwachen, zähmt die Ungestümen und züchtigt die Schuldigen.(34)

c. Der Wunsch, liebenswert zu sein. Schließlich gibt es noch einen weiteren natürlichen Antrieb zu einem moralischen Leben: den Wunsch, liebenswert zu sein. Ihn können wir nur realisieren, indem wir versuchen, aus der Perspektive der Unparteilichkeit heraus zu urteilen. Das eigene Verhalten wird durch die Augen verschiedener Menschen sehr verschieden beurteilt. Für schwache, eitle und leichtfertige Menschen besteht "das höchste Ziel ihrer Wünsche" in der Billigung "ihrer engeren Umgebung". Haben sie diese erreicht, dann "ist ihre Freude vollkommen, und wenn ihnen dies nicht gelingt, so ist ihre Enttäuschung grenzenlos. Sie denken niemals daran, an einen höheren Gerichtshof zu appellieren". Manche lernen jedoch, "unter den Augen eines ganz unparteiischen und gerechten Menschen zu handeln." (T 297 f.)

Sich in die Perspektive eines unparteiischen Betrachters einzuleben, der kein Interesse hat, die Interessen einer Partei denjenigen einer anderen vorzuziehen, schafft in uns eine angemessenere Sicht der Dinge. Der unparteiische Richter erinnert uns u. a. daran, dass wir nur ein Mensch unter vielen sind. Der unparteiische Betrachter ist es, "der uns, so oft wir im Begriffe stehen, so zu handeln, dass wir die Glückseligkeit anderer in Mitleidenschaft ziehen, mit einer Stimme, die imstande ist, unsere vermessensten Leidenschaften in Bestürzung zu versetzen, zuruft, dass wir nur einer aus der Menge sind und in keiner Hinsicht besser als irgendein anderer dieser Menge."(35) Wer von der Perspektive der Unparteilichkeit aus urteilt, empfindet, was er vom Standpunkt der Menschheit aus empfinden sollte. Der unparteiische Betrachter ist eine Metapher dafür, dass Menschen imstande und im Grunde auch willens sind, Dinge ohne Einmischung des eigenen persönlichen Vorteils zu beurteilen.(36)

Der unparteiische Beobachter ist der Garant für Gleichheit. Er verschafft dem Menschen darüber hinaus alles, was im Leben wirklich wertvoll ist, vor allem Seelenruhe und innere Gelassenheit. Und Unparteilichkeit ist Ausdruck höchster Selbstverwirklichung: Die Natur, schreibt Smith, hat den Menschen "nicht nur mit dem Verlangen begabt, gelobt und gebilligt zu werden, sondern auch mit dem Verlangen, so zu sein, dass er gelobt werden sollte [...] Das erste Verlangen hätte nur den Wunsch in ihm erwecken können, für die Gemeinschaft geeignet zu scheinen. Das zweite war notwendig, um ihn zu einem Menschen zu machen, der eifrig bemüht ist, wirklich für die Gesellschaft tauglich zu sein." (T 176 f.)

 

Abschnitt 12

Durch den Aufweis natürlicher Antriebe glaubt Smith, eine ethische Begründung gemeinwohlorientierten staatlichen Handelns gefunden zu haben. So ist das Vergeltungsgefühl die Basis für Gerechtigkeit und der Wunsch, liebenswert zu sein, der Garant für Unparteilichkeit und Gleichheit. Derjenige ist kein Bürger, "der nicht willens ist, die Gesetze zu achten und der bürgerlichen Obrigkeit Gehorsam zu leisten; und derjenige ist sicherlich kein guter Bürger, der nicht den Wunsch hegt, mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen. die Wohlfahrt der ganzen Gemeinschaft seiner Mitbürger zu fördern." (T 392)

Aber ist es Smith wirklich gelungen. sein komplexes und insgesamt doch sehr positives Menschenbild zu begründen? Ich nenne zwei grundlegende Bedenken:

1. Stimmt es wirklich, dass nur der moralische Mensch glücklich ist? Häufig scheint nämlich eher das Gegenteil richtig zu sein. Denn moralische Menschen mögen zwar ein reines Gewissen haben, aber sie werden unter den Ungerechtigkeiten, den Übeln der Welt besonders leiden. Bereits Aischylos hatte seinen Prometheus der Vorstellung vom stets glücklichen moralischen Weisen entgegengestellt: Prometheus, der menschenfreundlichste aller Götter ist nicht der glücklichste, sondern der unglücklichste.

2. Inwieweit ist Smiths Menschenbild empirisch? Diese Frage stellt sich, da viele Menschen offenbar nicht danach streben, liebenswert zu sein, sondern alle ihre Energien in der materiellen Besserstellung erschöpfen. Smith könnte diesem Einwand begegnen, indem er zwischen einer >wahren< und einer >bloßen< Natur des Menschen unterscheidet und zu zeigen versucht, dass die wahre Natur des Menschen sich eben nur unter gewissen Bedingungen äußern kann. Wie sogleich näher ausgeführt werden wird (Abschnitt 13, Punkt f.), wählte Smith diese Möglichkeit. Auch Shakespeares King Lear handelt von Blindheit gegenüber den wahren Interessen und – wie Emily Brontes Wuthering Heights – von den fatalen Konsequenzen, die sich daraus ergeben.

Mag auch Smiths Moralphilosophie in mancherlei Hinsicht problematisch sein, so scheint sie eine Schwierigkeit, die alle objektivistischen Ethiken zu schaffen macht, allerdings nicht zu treffen: Keine Moralphilosophie wäre nötig, wenn menschliches Handeln so abliefe, wie es ablaufen sollte. Aber die Forderungen der Moralphilosophen könnten auch nicht eingelöst werden – sie wären vielmehr nur ein blödes, völlig unnötiges Herumgerede –, wenn die menschliche Natur, einmal geschwollen formuliert, keinen Angriffspunkt böte, der aus dem moralischen Sollen ein praktisches Sein werden lässt. Widerstritten die menschlichen Antriebe den ethischen Forderungen ganz und gar, so wären diese völlig unsinnig und im Grunde rein destruktiv, weil sie nichts anderes als Schuldgefühle erzeugten. Aber wenn Smith recht hat, dann gibt es in der menschlichen Natur sehr wohl derartige Antriebe, weshalb seiner Ansicht nach Menschen zu moralischem Verhalten nicht nur fähig, sondern bei vernünftiger Überlegung auch verpflichtet sind, dann nämlich, wenn sie sich selbst als Mensch treu bleiben wollen.

 

Abschnitt 13

Somit ergibt sich aus den bisherigen Überlegungen, dass für den Moralphilosophen Smith der homo ethicus wichtiger ist als der homo oeconomicus, also das Streben nach eigener Besserstellung nur dann berechtigt ist, wenn es fair und gerecht ist. Ist es aber fair und gerecht, dann ist es auch ausdrücklich erwünscht. Selbstinteresse wird vom unparteiischen Betrachter als Tugend anerkannt, sofern es sich in den Grenzen des Rechts betätigt. Genau das ist der Kern des Smithschen Individualismus und Liberalismus.

Das bislang gezeichnete Bild von seiner Philosophie bleibt indes an einem entscheidenden Punkt unpräzis. Denn an einer berühmten, immer wieder zitierten Stelle seines Werks – gleichsam das Wasserzeichen aller neoliberaler Geschichten – argumentiert Smith ganz anders. Er akzeptiert dort eindeutig unmoralisches Verhalten und billigt – in Mandevilles Terminologie – >private Laster<, da sie zu >öffentlichen Wohltaten< führen. Wegen der Komplexität der diesbezüglichen Argumentation Smiths sei sie in mehrere Gedankenschritte geteilt:

Abschnitt 13, Punkt a

Zunächst einmal beobachtet Smith richtigerweise, dass die menschliche Sympathie nicht immer gleich ausgeprägt ist: Sie ist nicht nur bei verschiedenen Menschen verschieden intensiv, sondern ihre Intensität hängt auch vom Gegenstand ab, mit dem sympathisiert wird. So sympathisieren Menschen gern mit den kleinen Freuden anderer, während sich bei deren großen Freuden Neid einmischt. Anders reagieren die Menschen auf das Leid anderer. Bei großem Schmerz "kannst du meistens doch auf die Sympathie all deiner Freunde rechnen", aber ist das Unglück von nicht so furchtbarer Art, "dann darfst du dich auf das Gespött all deiner Bekannten", oft sogar Schadenfreude, "gefasst machen." (T 59 f.) Wegen der fehlenden Sympathie der Mitmenschen bei kleinen, unbedeutenden Leiden sind diese oft schwieriger zu ertragen als die großen.

Abschnitt 13, Punkt b

Aber auch dann, wenn Menschen lieber mit kleinen als mit großen Freuden und lieber mit großem als mit kleinem Leid sympathisieren, nehmen sie – so beobachtet Smith – insgesamt doch viel lieber an der Freude als am Leid anderer Anteil. Weil dem so ist, pflegen wir "mit unserem Reichtum zu prunken und unsere Armut zu verbergen [...] Ja, es kommt hauptsächlich von dieser Rücksicht auf die Gefühle der Menschen, dass wir Reichtum anstreben, und dass wir der Armut zu entrinnen trachten [...] Bilden Sie sich ein, dass in einem Palast ihr Magen besser oder Ihr Schlaf gesünder sei, als in einer Hütte? Das Gegenteil ist so oft bemerkt worden". Da man in weicheren Betten nicht tiefer schläft, kann das Streben nach Wohlbefinden nur zum Teil die Ursache für das Streben nach Reichtum sein. Wichtiger ist Eitelkeit, die "immer auf der Überzeugung [beruht], dass wir der Gegenstand der Aufmerksamkeit" anderer sind. (T 70 f.)

Während Menschen sich vom Elend der Armen abwenden, nehmen sie am Schicksal der Reichen Anteil: "All das unschuldige Blut, das in den Bürgerkriegen vergossen wurde, rief weniger Empörung hervor als der Tod Karls I." (T 74 f.) Aufgrund einer, wie ich sie nennen möchte, >parteiischen< Sympathie, einer Sympathie mit den Reichen (und nicht mit dem unparteiischen Betrachter), kommt es zwar zu einem ökonomischen Aufschwung. (Denn die Reichen streben nach Luxus, um Gegenstand der Sympathie anderer zu sein, und die Armen streben nach Reichtum, um Gegenstand der Sympathie anderer zu werden). Aber die Menschen täuschen sich, wenn sie glauben, auf diese Weise Seelenruhe erlangen zu können – nur der unparteiische und vernünftige, also besonnene Mensch ist dazu imstande.

Abschnitt 13, Punkt c

Wie nicht anders zu erwarten, weckte diese Diagnose bezüglich der parteiische Sympathie, die so natürlich zu sein scheint, in Smith ethisches Unbehagen. Denn er hatte doch, um die zentralere Rolle der moralischen Antriebe zu betonen, sogar das faszinierende Bild von der Natur gebraucht, die sich durch die moralischen Empfindungen der Menschen selbst korrigiert: "Ein fleißiger Schurke bebaut den Boden, ein guter. aber nachlässiger Mensch lässt ihn unbebaut. Wer von beiden soll nun die Ernte einheimsen? Wer von beiden soll in Not und wer in Fülle leben? Der natürliche Lauf der Dinge entscheidet zugunsten des Schurken, die Empfindungen der Menschen entscheiden naturgemäß zugunsten des Tugendhaften. [...] So wird der Mensch durch die Natur selbst angeleitet, jene Verteilung der Dinge in gewissem Maße zu verbessern, die sie selbst sonst vorgenommen hätte."(37)

Abschnitt 13, Punkt d

In einer berühmten Passage in der Theory of Moral Sentiments zieht Smith diese Konsequenz jedoch ausdrücklich nicht. Vielmehr meint er dort, dass es gut sei, wenn Menschen von der >parteiischen< Sympathie getäuscht werden: Zwar richten viele sich "dadurch zugrunde, dass sie für Tand, der den unbedeutendsten Nutzwert besitzt, Geld ausgeben" (T 310), aber die Selbstsucht und Raubgier der Reichen gibt Tausenden Arbeit. Dieser Tand schafft keine Seelenruhe, denn im "Wohlbefinden des Körpers und in dem Frieden der Seele stehen alle Lebensstände einander nahezu gleich, und der Bettler, der sich neben der Landstraße sonnt, besitzt jene Sicherheit und Sorglosigkeit, für die Könige kämpfen."(38) Die Könige irren also, "und es ist gut, dass die Natur uns in dieser Weise betrügt. Denn diese Täuschung ist es, was den Fleiß der Menschen erweckt und in beständiger Bewegung erhält." (T 315) Die Könige irren, weil sie glauben, durch immer mehr Luxusgüter Seelenruhe erlangen zu können. Die Könige irren sich, und Smith interpretiert diesen Sachverhalt – dass sie von der Natur genarrt werden – positiv. Wie ist dies zu verstehen?

Abschnitt 13, Punkt e

Meines Erachtens lautet die Antwort darauf so: Nach Smith sind wir motiviert, nach materieller Besserstellung zu streben. Auf diesem Wunsch gründet die ökonomische Aktivität. Der Wunsch nach materieller Besserstellung ist ebenso natürlich wie ein anderes Motiv, das ebenfalls die ökonomische Aktivität belebt: der Wunsch, Gegenstand sympathetischer Empfindungen anderer zu sein. Es war nicht nur die Eitelkeit der Reichen, die in Europa 1000 Jahre lang den natürlichen Lauf der ökonomischen Entwicklung hemmte, sondern es war auch die Bereitschaft der Armen, eher mit der Freude (der Reichen) als mit Leid zu sympathisieren. Diese >parteiische< Sympathie, die die ökonomische Aktivität belebt (und damit auch positive Auswirkungen hat), hat jedoch entscheidende negative Effekte: Nicht nur wahres Glück bleibt so unerreichbar, sondern ganz allgemein werden durch >parteiische Sympathie< unsere moralischen Empfindungen zerstört. Smith ist sich dieser Tatsache völlig bewusst: "Über die Verfälschung unserer ethischen Gefühle, die aus unserem Hang entsteht, die Reichen und Großen zu bewundern, dagegen Personen in ärmlichen und niedrigen Verhältnissen zu verachten und hintanzusetzen", lautet sogar eine Kapitelüberschrift in der Theory of Moral Sentiments.

Abschnitt 13, Punkt f

Um nun die Frage beantworten zu können, weshalb es gut sein sollte, dass die Natur uns in dieser Weise täuscht, müssen erneut Ausführungen aus den Lectures on Jurisprudence zu Rate gezogen werden. Smith analysiert dort u. a. die den verschiedenen Stadien der gesellschaftlichen Entwicklung zukommenden Normensysteme und versucht, einen Zusammenhang zwischen Produktions- und Herrschaftsform herzustellen.

So meint er beispielsweise, dass auch in der Jägerkultur Gerechtigkeit eine Tugend ist und ungerechtes Verhalten bestraft wird: Wenn etwa bei nordamerikanischen Indianern "jemand irgendein sehr abscheuliches Verbrechen gegen einen anderen begeht, werden sie ihn manchmal töten, aber nicht auf gerichtliche Weise, sondern durch die Empörung oder Entrüstung, die das Verbrechen in einem jeden hervorgerufen hat". In solchen Fällen lauert ihm das ganze Volk auf und tötet ihn "durch einen Meuchelmord in der Weise, wie es einen Fremden töten würde." (J 201) Wird die Gesellschaft komplexer, gründen Menschen eine eigene Institution, deren Aufgabe die Rechtssprechung ist.

Dies gilt bereits für die Hirtenkultur. Nun ereignete sich dort eine dramatische Entwicklung, die letztlich das Streben nach materieller Besserstellung vom Streben nach einem moralischen Leben abkoppelte. Smith argumentiert so: In der Hirtenkultur gab es erstmals Privateigentum. Während bei Jägern und Sammlern Eigentum nur unmittelbarer Besitz war (der Apfel, den jemand pflückte, gehörte ihm), erlaubte die Domestizierung von Tieren erstmals Privatbesitz für längere Zeit. Die Anhäufung von Besitz an lebensnotwendigen Gütern war damit möglich, und tatsächlich kam es (wegen der allgemeinen Knappheit der Ressourcen) zur Trennung in arm und reich, also in jene, die Herden besaßen, und in jene, die keine besaßen. Dieser gesellschaftliche Zustand ist Smith zufolge im Alten Testament beschrieben: "Abraham, Lot und die anderen Patriarchen verhielten sich wie kleine, kleinliche Prinzen". (J 405) Der Dekalog ist also, so Smith, das Normensystem einer Hirtenkultur. (Die darin beschriebenen Wüstensöhne zogen als Nomaden von Oase zu Oase und ein Teil von ihnen war gerade im Begriffe, sesshaft zu werden und Ackerbau zu treiben. Wie man aus der Erzählung von Kain und Abel ersehen kann, kam es bald zwischen den Vertretern dieser beiden Kulturen zu Konflikten.)

Diese Entwicklung war deshalb dramatisch, weil Jäger und Sammler durch die Zähmung vieler jagdbarer Tiere verarmt waren. Die nun eingerichtete Regierung, die eigentlich die Gerechtigkeit garantieren, unter anderem Streit zwischen den Besitzenden schlichten sollte(39), wurde von den Reichen instrumentalisiert, um ihre Macht zu festigen, da Übergriffe stets drohten. Gesetze und Regierung wurden zu einer "Verbindung der Reichen", um die "Armen zu unterdrücken und die Ungleichheit der Güter zu schützen, die ansonsten bald durch Angriffe der Armen zerstört worden wäre." (J 208) Eine Schicht, nämlich Jäger und Sammler, war verarmt und verlor an Macht; Ackerbau und Gewerbe gab es praktisch noch nicht; die krassen Gegensätze der Klassengesellschaft waren für die Besitzenden so bedrohlich, dass ihr Gerechtigkeitssinn zerstört wurde. Aufgrund dieser ökonomischen Bedingungen kam es zu einer Abkoppelung des Strebens nach materieller Besserstellung vom Streben nach einem moralisch und wirklich glücklichen Leben. Einen Ausweg aus dieser Situation konnte nur noch die Änderung der ökonomischen Bedingungen, nämlich der Übergang zur Ackerbau- und Händlerkultur und die damit einhergehende Machtaufteilung bringen. Und diesen Übergang leistete das durch Eitelkeit maßlos übersteigerte Bedürfnis nach wechselseitiger Sympathie, das Menschen zwar täuschte, weil Seelenruhe so nicht erlangt werden kann, das aber – da moralische Antriebe ja keine andere Möglichkeit mehr hatten, sich zu entwickeln – als einziger natürlicher Antrieb den Übergang zu einer anderen Produktionsform bewirken konnte.

Abschnitt 13, Punkt g

In genau diesem Kontext spricht nun Smith von der positiven Täuschung durch die Natur. Er bezieht sich hier auf eine konkrete sozio-ökonomisch-politische Situation, nämlich auf die Hirtenkultur bzw. die der Despotie von Hirtenpatriarchen verwandte Despotie der Feudalherrn. Sie schildert Smith als tugendlose Klasse von Herrschern, weshalb es gut ist, dass die Natur sie täuschte und dass diese Herrscher meinten, durch immer mehr Luxus Seelenruhe erlangen zu können. Ihre Eitelkeit veranlasste sie, sich immer wieder neue Dinge anzuschaffen, die im Grunde gänzlich überflüssig sind. Für die Herstellung dieser Dinge und Leistungen brauchten sie jedoch Handwerker und Bedienstete, die sie mit Geld und Lebensmitteln versorgen mussten, wodurch sich langsam die Macht aufteilte. Es ist also gut, dass sie der List der Vernunft auf den Leim gingen und für >Tand und Flitter< ihre Macht verspielten, denn nur so war die Überwindung des Feudalismus möglich. Ohne ihre Eitelkeiten wären die Feudalherren aufgrund ihrer Macht imstande gewesen, ihre Herrschaft viel länger auszuüben und eine dauerhafte Klassengesellschaft zu installieren. Aber sie waren nicht klug und verkauften ihre Macht, und eine Klasse von Wirtschaftstreibenden entstand, in deren kurzfristigem Interesse es lag, klug zu handeln, sich also genau zu überlegen, welche Handlungen ihrem Interesse förderlich sind (>jeden Pfennig umdrehen, ehe man ihn ausgibt<) und Einrichtungen zu gründen, die garantieren, dass sie freier denken, freier handeln und freier arbeiten konnten – die sie und ihr Habitat, die ummauerte Stadt, vor der Willkür feudaler Herren und der von ihren angeführten Bauernhorden schützten (Die meisten Städte haben in ihrem Wappen noch diese Mauer). Stadtluft macht frei, und In der urbanen Mittel- und Unterschicht glaubt Smith den ökonomisch aktiven, aber auch klugen und gerechten Menschen zu finden, nicht weil dieser eine bessere Natur als der Feudalherr hätte, sondern weil die Umstände ihn zwingen, die höheren Antriebe seiner Natur zu realisieren.(40)

Abschnitt 13, Punkt h

Smiths berühmte Theorie der Unsichtbaren Hand ist also so zu lesen, dass der Tausch von Gütern das menschliche Handeln langfristig zu positiven wirtschaftlichen Folgen koordinieren kann. Sie ist aber nicht so zu interpretieren, dass in einer Gesellschaft, in der Marktstrukturen bereits funktionieren, die Pflicht der Unternehmer, klug und gerecht zu handeln, aufgehoben wäre. Dass manchmal in der Geschichte dem Bösen das Gute folgte, heißt nach Smith nicht, dass dem stets so wäre und dass das Böse deshalb moralisch legitimiert sei. Eine mephistophelische Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft, glaubt er in der Geschichte nicht entdecken zu können. Für Smith hat der Markt tatsächlich eine ganze Reihe positiver Aufgaben. Aber nur wenn Menschen nach Eigennutz im Rahmen von Fairness und Gerechtigkeit streben, soll alles andere ihm überlassen werden, der dann Ordnungen schafft, die besser sind als die von Menschen für lange Zeiträume geplanten. >Geschäft ist Geschäft< oder >Jeder ist seines Glückes Schmied< hat Smith nie behauptet, und er war auch kein Apostel des Neoliberalisms. Der homo ethicus ist Smith zufolge ebenso natürlich wie der homo oeconomicus, und er ist in der entwickelten Händlerkultur wichtiger (was natürlich nicht bedeutet, um dies nochmals deutlich zu sagen, dass selbstinteressiertes ökonomisches Handeln an sich verwerflich wäre).

Smith zufolge sind Menschen immer, auch in ihrem Streben nach materieller Besserstellung, zu Gerechtigkeit verpflichtet. Smiths Vorbild war nicht der rücksichtslose Unternehmer, schon gar nicht der faulenzende, in Prunk und Pomp lebende und seine Untertanen unterdrückende Feudalherr, sein Vorbild war der faire Sportler. Dieser strebt nach eigener Besserstellung, aber vergisst nie die Gebote der Fairness und Gerechtigkeit. Wenn Smith schreibt, dass es gut ist, dass die Natur uns täuscht, so meint er damit eine konkrete ökonomische Situation, in der die moralischen Antriebe der Menschen völlig verkümmert waren. Nur die extreme Eitelkeit der absolut Regierenden ermöglichte den Übergang zu einer menschlicheren Gesellschaft. Es war gut, dass ihre Eitelkeit ihnen einen bösen Streich spielte und ihr Luxus letztlich zu einer gleichmäßigeren Verteilung der notwendigen Güter des Lebens führte.

Smith hatte allen theistisch orientierten Moralphilosophen den Vorwurf gemacht, dass ihr Denken letztlich um ein jenseitiges Glück kreise. Er selbst stand in der Tradition antiker Moralphilosophen und sah die Aufgabe der Ethik darin, Wege zu diesseitigem Glück aufzuzeigen; und in diesem Leben ist es nun einmal so, dass der Luxus einiger die Notwendigkeiten einiger anderer zu befriedigen vermag. Smith, dessen Menschenbild gelegentlich das Utopische streift, war Realist genug, dies zu erkennen. Welche (ökologischen) Probleme für alle entstehen, wenn der Luxus einiger zu den Notwendigkeiten vieler wird, hat er allerdings nicht bedacht.

 

Zusammenfassung

Ich fasse meine Ausführungen kurz zusammen: In diesem Aufsatz wurde zu zeigen versucht, dass es nach Smith menschliche Grundbedürfnisse und eine natürliche ökonomische Entwicklung gibt; dass es zwar verhängnisvolle Einflüsse des Staates auf den Wirtschaftsprozess geben kann, dass aber dieser dennoch gestaltende Aufgaben zu erfüllen hat; dass es ein positives Wirken der Unsichtbaren Hand des Marktes, aber auch ein negatives gibt, dass es Antriebe in der menschlichen Natur gibt, die die eigene Besserstellung zum Ziel haben, und dass es Antriebe gibt, deren Ziel Gerechtigkeit und Fairness ist. Der moderne Staat ist nach Smith kein Nachtwächterstaat, sondern ihm fällt die Aufgabe zu, durch Schaffung einer Infrastruktur die Wirtschaft zu fördern und durch Bildung im weitesten Sinn die gesellschaftlich negativen Auswirkungen der ökonomisch vorteilhaften Arbeitsteilung zu mildern. Erst durch die universelle Verwirklichung individueller Autonomie durch Bildung wäre nach Smith das natürliche System von Gleichheit, Freiheit und Gerechtigkeit realisiert. Erst dann ergäbe sich ein Wohlstand der Nationen. An hervorragender Stelle im Wealth of Nations, nämlich im Einleitungssatz zum vierten Buch, beschreibt Smith die Aufgabe der Politischen Ökonomie (und legt damit auch Rechenschaft ab über seinen eigenen Wealth of Nations): "Die Politische Ökonomie verfolgt als Zweig der Wissenschaft, die eine Lehre für den Staatsmann und Gesetzgeber entwickeln will, zwei unterschiedliche Ziele. Einmal untersucht sie, wie ein reichliches Einkommen zu erzielen oder der Lebensunterhalt für die Bevölkerung zu verbessern ist, zutreffender, wodurch der einzelne in die Lage versetzt werden kann, beides für sich selbst zu beschaffen, und ferner erklärt sie, wie der Staat oder das Gemeinwesen Einnahmen erhalten können, mit deren Hilfe sie öffentliche Aufgabe durchführen. Die Politische Ökonomie beschäftigt sich also mit der Frage, wie man Wohlstand und Reichtum des Volkes und des Staates erhöhen kann." (W 347) Nicht nur die Deutlichkeit, mit der Smith hier schreibt, sondern auch die Korrektur, die er vornimmt, ist bedeutungsvoll: Er spricht zunächst von der Aufgabe des Staates, das Volk zu versorgen. Dann korrigiert er sich: zu ermöglichen, dass das Volk sich selbst versorgt. Dieser Punkt, der die Funktionen des Staates und des Marktes zusammenfasst, scheint mir das Typische des Smithschen Liberalismus – und der Sozialen Marktwirtschaft zu sein.

 

 

Anmerkungen:

(*) Da in diesem Aufsatz sehr ausführlich aus den Arbeiten von Adam Smith zitiert wird (um das immer noch weitverbreitete Bild vom Manchester-liberalen bzw. neoliberalen Schotten an Hand des Textes zu korrigieren), wurden alle Zitate ins Deutsche übertragen. Die Übersetzungen stammen alle von mir, allerdings habe ich mich so weit als möglich an die Übertragung der Theory of Moral Sentiments von W. Eckstein (Hamburg (2)1977) sowie an diejenige des Wealth of Nations von H. C. Recktenwald (München (3)1983) gehalten. Da Smiths Originalwerke im deutschen Sprachraum kaum verbreitet sind, wohl aber die beiden deutschen Übertragungen, beziehen sich die Seitenzahlen nur auf die letzteren.

Es werden folgende Siglen verwendet:

T = The Theory of Moral Sentiments (bzw.: Die Theorie der ethischen Gefühle)

W = The Wealth of Nations (bzw.: Der Wohlstand der Nationen)

J = Lectures an Jurisprudence

E = Essays an Philosophical Subjects

(1) A. Smith, Lectures an Jurisprudence. Oxford 1978, S. 334-40.

(2) Smith erwähnt nicht ausdrücklich, würde es allerdings auch kaum bestreiten, dass bereits bei der Befriedigung der drei Grundbedürfnisse ästhetische Überlegungen eine gewisse Rolle spielen mögen. Was ihn interessierte, waren ästhetische Bedürfnisse besonderer Art: der Wunsch nach >Ausgefallenem< wie Schmuck und Gepränge. Zu anderen Formen ästhetischen Empfindens siehe seinen Essay Of the Nature of that Imitation which takes place in what are called The imitative Arts (abgedr.: E, S. 176-213).

(3) J 8-20. Die ökonomische Betrachtung der Geschichte, wiewohl eines der Charakteristika der Schottischen Aufklärer (also von David Hume, Adam Smith, Adam Ferguson, John Millar), hat eine längere Tradition. So finden sich beispielsweise verschiedene Hinweise in B. Mandevilles Fable of the Bees.

(4) Gewiss hat Smith recht, dass im Laufe der ökonomischen Entwicklung die Arbeitsteilung massiv zugenommen hat, allerdings dürfte es bereits im ersten Stadium der gesellschaftlich-ökonomischen Entwicklung Arbeitsteilung gegeben haben, etwa zwischen Männer- und Frauenarbeit. Auch dürften sich bereits in der Jägerkultur einige Mitglieder der Gesellschaft, die für eine bestimmte Tätigkeit besonders talentiert waren (etwa zur Herstellung von Waffen), darauf konzentriert und ihren Unterhalt durch den Tausch der von ihnen hergestellten Gegenstände bestritten haben.

(5) Die moderne Form gesellschaftlichen Zusammenlebens ist nach Smith eben diese Händlerkultur. An seinen Ausführungen ist nicht zuletzt interessant, dass andere >Kapitalisten<, nämlich Fabrikanten, von Smith zwar begrifflich von Händlern unterschieden, diesen aber als dominierende ökonomische Schicht untergeordnet werden. Diese Auffassung mag damit zusammenhängen, dass Smith die Lectures on Jurisprudence das letzte Mal 1763/4, also vor dem eigentlichen Beginn der industriellen Revolution, vorgetragen hat. Auch ist interessant, dass Smith zufolge Privateigentum nicht das charakteristische Merkmal der modernen Gesellschaft ist, da es Privateigentum bereits in der Hirtenkultur gab (siehe Abschnitt 13, Punkt f.).

(6) An anderer Stelle, nämlich in seinem Essay an Astronomy (abgedr.: E, S. 33-105), erwähnt Smith ein weiteres natürliches Grundbedürfnis: den Wunsch nach Ordnung, der auch der Wissenschaft als einer >Ordnung stiftenden menschlichen Erfindung< zugrundeliegt. Bemerkenswerterweise nennt Smith hier weder Sexualität noch intensivere Formen menschlicher Zuneigung als Grundbedürfnisse.

(7) Ohne dies im einzelnen näher auszuführen – ein echtes Problem jeder Beschäftigung mit Smith besteht darin, dass dieser viele seiner Grundbegriffe nicht ausreichend klärte – … also: Ohne dies selbst näher auszuführen, verwendet Smith den Ausdruck >natürlich< in zwei Bedeutungen: einmal deskriptiv, um nämlich eine Ursprungsrelation zu bezeichnen (>x ist natürlich< heißt dann: >x ist angeboren<), das andere Mal präskriptiv, nämlich als Beurteilungsmaßstab für Motive, Handlungen oder Zustände (>x ist natürlich< bedeutet dann so viel wie: >x ist positiv/günstig/richtig<). Diese beiden Bedeutungen von >natürlich< sind selbstverständlich nicht synonym: Wenn Smith >natürliche< Eingriffe des Staates in den Wirtschaftsbereich gutheißt, so meint er damit nicht, dass sie letztlich auf angeborenen menschlichen Motiven basieren (denn das gilt für alle Eingriffe), sondern er meint, dass sie auf ganz bestimmten Motiven basieren (im Gegensatz zu >künstlichen< Eingriffen, die zwar ebenfalls in angeborenen Motiven wurzeln, aber in anderen als die >natürlichen<). Um welche Motive es sich dabei konkret handelt, wird später erläutert (Abschnitt 11). Die deskriptiv-präskriptive Doppelverwendung des Naturbegriffs übernahm Smith aus dem Deismus bzw. den Naturrechtslehren: Da – dieser Anschauung zufolge – Gott der Schöpfer der äußeren und inneren Natur ist, kommt dem Deskriptiven präskriptive Bedeutung zu, äußert sich doch darin Gottes Wille. Vgl. G. Streminger, Der natürliche Lauf der Dinge. Essays zu Adam Smith und David Hume. Marburg 1995.

(8) Auch Smiths berühmt-berüchtigte Unterscheidung zwischen >produktiver< und >nicht-produktiver< Arbeit spiegelt diese Überlegung wider: In der produktiven Arbeit werden Dinge wie Nahrung, Wohnung und Bekleidung hergestellt, also die Grundbedürfnisse befriedigt. Unproduktive Arbeit schafft hingegen Luxusartikel oder Produkte, die nicht unmittelbar verwertbar sind. Jemand, der Schweine züchtet, ist Smiths unglücklicher Terminologie zufolge produktiv tätig, wer hingegen Studierende unterrichtet, unproduktiv.

(9) Der Erstgeborene ist also aufgrund gewisser Umstände nicht motiviert, die Perspektive der Unparteilichkeit einzunehmen, die, wie später ausgeführt wird (Abschnitt 11), laut Smith zur Entwicklung des moralischen Bewusstseins unerlässlich, für dieses geradezu konstituierend ist. Wie schädlich dieses Recht der Erstgeburt für die ökonomische Entwicklung war, erläutert Smith auch am Beispiel von Pennsylvania, wo es dieses Recht nicht gab, der Boden also auf alle Kinder gleichmäßig verteilt und bestens kultiviert wurde. Überhaupt scheint Smith der Meinung zu sein, dass die Entwicklung in Nordamerika weit >natürlicher< verläuft als sie im alten Europa verlaufen ist. Zu diesem Punkt finden sich im Wealth of Nations allerdings nur Andeutungen.

(10) Dennoch kam es schließlich zur Abschaffung der Leibeigenschaft. Smith nennt zwei Gründe: Zum einen wurde bekannt, dass die Erträge, die die wenigen freien Bauern erzielten, wesentlich höher waren, und zum anderen ermunterte der Landesherr die Leibeigenen, "sich gegen die Macht des Grundherrn aufzulehnen" (W 320; es gab vor dem Dreißigjähigen Krieg weit mehr Bauernaufstände als gemeinhin bekannt). Aus Leibeigenen wurden schließlich Pächter. Als diese längerfristige Pachtverträge abschließen durften und ihr Recht geschützt war, begannen sie, mehr Arbeitskraft und schließlich eigenes Geld zu investieren.

(11) Auch hier dürften spezifische Verhältnisse in jener Stadt, in der Smith fast zwölf Jahre lang Professor für Moralphilosophie war, eine Rolle gespielt haben: Glasgows führende Unternehmerschicht, die >Patrizier< der Stadt, waren jahrzehntelang die Tabakhändler, die Tobacco Lords, deren Geld allmählich in die Landwirtschaft und in die Manufakturen floss. Smith war Mitglied des von Glasgows Bürgermeister gegründeten Political Economy Club. Zur Biographie Smiths vgl. G. Streminger, Adam Smith. Reinbek 21999 (dort auch zahlreiche Literaturhinweise).

(12) W 334f. Smith meint, dass von diesen drei Konsequenzen die dritte die wichtigste sei und David Hume "als einziger" sie bislang beachtet habe.

(13) Der Markt hat also auch einen wichtigen befreienden Effekt. Die dadurch bewirkte Ordnung und Freiheit ist jedoch in Wirklichkeit komplex: Händler oder Unternehmer sind primär nicht mehr mit einzelnen Personen, sondern mit dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage konfrontiert, der ihre Entscheidungsfreiheit einschränkt. Aber diese Beschränkung ist anonym und ergibt sich indirekt aus den Entscheidungen anderer. Die eingeschränkte Entscheidungsfreiheit ist somit für den Unternehmer kein oder doch nur ein ganz spezifischer Verlust an Freiheit. Durch den Markt entstehen aber auch neue Abhängigkeiten: Zwar muss etwa ein bestimmter Bäcker nicht mehr bei einem bestimmten Schuster einkaufen, aber die Gruppe der Bäcker hängt von der der Schuster ab (und umgekehrt), da sie ja die meisten Produkte, die sie benötigen, nicht mehr selbst herstellen (vgl. W 14). Durch den Markt werden neue, anonymere Formen der Freiheit und Abhängigkeit geschaffen.

(14) Zu Recht meint A. W Coats, dass im dritten Buch des Wealth of Nations untersucht werde, wie "the >natural< course of events has repeatedly been perverted or checked by human interferences" (A. W. Coats, >Adam Smith and the Mercantile System<, in: A. S. Skinner/Th. Wilson, Essays on Adam Smith (1975), S. 218-36 (Zitat: S. 223)). Im Hintergrund von Smiths Ausführungen über die möglichen negativen Folgen des Staatsinterventionismus steht wohl auch die Erfahrung, dass seit 1707, also seit der Union der Parlamente in London, Schottland durch die Öffnung der Grenzen (und Märkte) mit England einen bedeutenden ökonomischen Aufschwung erlebte – und dies, obwohl die wenigen schottischen Abgeordneten (gegenüber den englischen ohnedies zahlenmäßig unterrepräsentiert), sich um ihr Land wenig kümmerten bzw. kümmern konnten.

(15) Vgl. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze (1748), Buch III, Kap. 7: "So trägt jeder zum Gemeinwohl bei, während er glaubt, nur seinen Privatinteressen nachzugehen". In der Theorie der Unsichtbaren Hand wird also, mit anderen Worten, die Identität der Sonderinteressen mit dem Allgemeinwohl behauptet.

(16) Obwohl in einer Jägerkultur jeder Arbeitsfähige einer Beschäftigung nachgeht, lebten diese Völker "in so großer Armut, dass sie häufig aus schierer Not gezwungen sind [...], Kinder, Alte und Sieche bedenkenlos umzubringen oder auszusetzen, so dass sie dann entweder verhungern müssen oder wilden Tieren zum Opfer fallen". In der Händlerkultur ist das Sozialprodukt hingegen so hoch, "dass alle durchweg reichlich versorgt sind, obwohl ein großer Teil der Bevölkerung überhaupt nicht arbeitet." (W 3)

(17) Smith sieht nicht, dass es hier eine Grenze nach unten gibt, also die Geschicklichkeit abnimmt, wenn Menschen sich jahraus, jahrein auf eine Tätigkeit konzentrieren. Auch wäre Smith wahrscheinlich über die gelegentlich sehr begrenzte Qualität von industriell gefertigten Massenprodukten erstaunt gewesen. Adam Ferguson war in diesem Punkt kritischer als Smith.

(18) "Jedes Tier bleibt, allein und auf sich gestellt, darauf angewiesen, sich am Leben zu erhalten und zu verteidigen, und es kann keinerlei Vorteile aus der Vielfalt der Talente ziehen, mit der die Natur seine Artgenossen ausgestattet hat. Im Gegensatz hierzu nützen unter Menschen die unterschiedlichsten Begabungen einander. Die weithin verbreitete Neigung zum Handeln und Tauschen erlaubt es ihnen, die Erträge jeglicher Begabung gleichsam zu einem gemeinsamen Fonds zu vereinen, von dem jeder nach seinem Bedarf das kaufen kann, was wiederum andere auf Grund ihres Talents hergestellt haben." (W 19)

(19) W 371. In einen größeren Kontext gestellt, ging es dem Autor des Wealth of Nations auch um den Aufstieg der produzierenden Mitglieder der Gesellschaft und um die Unterordnung der bewaffneten.

(20) W 633 f. Smith konzentriert sich in dieser Analyse auf die Entfremdung der Arbeiter. Er scheint nicht der Meinung gewesen zu sein, dass auch Intellektuelle von dieser Entfremdung betroffen sind. Daher muss er sich auch nicht der Frage stellen (mit der orthodoxe Marxisten häufig konfrontiert werden), woher eigentlich das Bewusstsein kommt, das diese Dinge durchschaut.

(21) "Man kann sehr berechtigt sagen, dass die Menschen, die die ganze Welt kleiden, selbst Fetzen tragen." (J 540)

(22) W 552. Der ökonomische Fortschritt der Gesellschaft besteht in der Vermehrung der Güter im Vergleich zur damit aufgewendeten Arbeit, also in der relativen Billigkeit jedes einzelnen Produkts. Dies wird insbesondere durch Konkurrenz und den Zwang zur Investition erreicht. Aber eben diese Konkurrenz sorgt auch dafür, dass die Profite sinken: Je mehr Kapital sich in einem bestimmten Sektor konzentriert, desto geringer ist der Profit, der erzielt werden kann. Kapitalisten sind deshalb daran interessiert, die Konkurrenz – da sie für ihre Gewinne verderblich ist – auszuschalten oder einzuschränken (oder aufzukaufen). Smith glaubt, hier eine Klasse von Menschen zu sehen, "deren Interesse niemals dem öffentlichen Wohl genau entspricht, und die in der Regel vielmehr daran interessiert sind, die Allgemeinheit zu täuschen, ja, sogar zu missbrauchen. Beides hat sie auch tatsächlich bei vielen Gelegenheiten erfahren müssen." (W 213) Smith sagt dies an keiner verborgenen Stelle, sondern es handelt sich dabei um den Schlusssatz des ersten Buches des Wealth of Nations. Ein negativeres Urteil über jene Gruppe von Menschen, die sich als bürgerliche Klasse par excellence versteht, lässt sich kaum vorstellen. Obwohl Smith die Unternehmenstätigkeit der commercial class natürlich insgesamt positiv bewertet – dadurch können die Grundbedürfnisse aller spielend gedeckt werden – , ist er also weit davon entfernt, ein unkritischer Apologet des Kapitalismus zu sein: "Gewalttätigkeit und Ungerechtigkeit der Mächtigen der Menschheit sind zwar ein altes Übel, gegen das, so fürchte ich, die Natur menschlichen Verhaltens und Tuns kaum ein Mittel finden kann, doch könnten bloße Habgier und Monopolgeist der Kaufleute und Unternehmer, die weder Potentaten der Menschheit sind, noch eigentlich sein sollten, wenn auch wohl nicht ausgerottet, so doch vermutlich leicht daran gehindert werden, den Frieden und die Gelassenheit anderer Menschen, außer der eigenen, zu stören." (W 407)

(23) "Wenn Weine aus Frankreich besser und billiger als portugiesische und Frankreichs Leinenstoffe besser und billiger als deutsche sind, so würde es für England vorteilhafter sein, beides, Wein und ausländisches Leinen, in Frankreich statt in Portugal oder Deutschland zu kaufen. Dadurch würde der Wert der Importe aus Frankreich zwar über das Jahr gewaltig ansteigen, der Wert der gesamten Jahreseinfuhr indes in dem Maße abnehmen, wie französische Waren gleicher Qualität billiger sind als die aus den beiden anderen Ländern." (W 388) Durch die Zielsetzung des Außenhandels, ein Land auf günstigste Weise mit Gebrauchsgütern zu versorgen, entfällt auch eine politische Maxime, die die Nationen verfeindet: die Meinung nämlich, der Gewinn der einen Nation sei der Verlust der anderen. "Mit Grundsätzen wie diesen wurde jedoch den Völkern eingeredet, ihr Interesse bestünde darin, alle ihre Nachbarn zu Bettlern zu machen, und jede Nation wurde so weit gebracht, dass sie mit Neid auf den Wohlstand der anderen zu blicken habe, mit denen sie Handel treibt, und deren Gewinn als eigenen Verlust zu betrachten. Der Handel, der seiner Natur nach unter Völkern wie unter einzelnen Menschen eigentlich ein Band der Eintracht und Freundschaft knüpfen sollte, wurde so zu einer höchst starken Quelle für Uneinigkeit und Feindschaft. Der unberechenbare Ehrgeiz von Königen und Ministern im Laufe unseres und des vergangenen Jahrhunderts ist für den Frieden in Europa nicht so verhängnisvoll gewesen wie die unverschämte Eifersucht von Kaufleuten und Unternehmern." (W 406 f.) Das Ende merkantilistischer Politik wäre im folgenden Fall – hier wird der Import billiger Waren noch zusätzlich gefördert – speziell auch für Arbeiter vorteilhaft: Indem Monopolisten "auf der anderen Seite dafür eintreten, dass der Import ausländischer Leinengarne gefördert wird, wodurch diese zu einer Konkurrenz für das Garn werden, das wir selbst herstellen, suchen sie das Erzeugnis der armen Spinner so billig wie möglich einzukaufen. Und so, wie die Verdienste der Spinner, wollen sie auch die Löhne der eigenen Weber niedrig halten, so dass sie beiden keineswegs nützen oder helfen, wenn sie bestrebt sind, entweder den Preis der fertigen Produkte zu erhöhen oder den Preis der Rohmaterialien zu senken. Unsere merkantilistische Wirtschaftsordnung fördert mithin hauptsächlich die Erwerbstätigkeit, die den Wohlhabenden und Mächtigen zugute kommt, und sie vernachlässigt oder unterdrückt allzu oft jene Gewerbe, welche den Ärmeren und Schwachen nützen." (W 543 f.)

(24) Abgesehen von den bereits erwähnten Argumenten entwickelt Smith noch ein weiteres, das die These stützen soll, dass der Staat sich aus dem Geschäftsleben als aktiver Mitspieler möglichst heraushalten sollte: In den meisten Fällen wissen nämlich einzelne besser, wie sie ihr Kapital einsetzen sollen, weil ihr Interesse unmittelbar davon abhängt. "Das Eigentum, das jeder Mensch an seiner Arbeit besitzt, ist in höchstem Maße heilig und unverletzlich, weil es im Ursprung alles andere Eigentum begründet. Das Erbe eines armen Menschen liegt in der Kraft und in dem Geschick seiner Hände, und ihn daran zu hindern, beides so einzusetzen, wie er es für richtig hält, ohne dabei seinen Nachbarn zu schädigen, ist eine offene Verletzung seines heiligsten Eigentums, offenkundig ein Übergriff in die wohlbegründete Freiheit des Arbeiters und aller anderen, die bereit sein mögen, ihn zu beschäftigen. So, wie der eine daran gehindert wird, an etwas zu arbeiten, was er für richtig hält, so werden die anderen daran gehindert, jemanden zu beschäftigen, der ihnen passt. Das Urteil darüber, ob er für die Arbeit geeignet ist, kann ruhig der Entscheidung der Unternehmer überlassen bleiben, deren Interesse davon so stark berührt wird. Die heuchlerische Besorgnis des Gesetzgebers, diese könnten einen zumindest Ungeeigneten beschäftigen, ist offensichtlich ebenso unverschämt. wie sie bedrückend ist." (W 106) Smith fordert Freiheit und Selbstbestimmung, weil er an die Freiheit denkt, nach eigenem Interesse und nach eigener Kenntnis sein Geschäft sachgerecht zu betreiben bzw. seine Arbeitskraft bestmöglich einzusetzen.. Er lehnt Staatseingriffe, die der Sachkenntnis ermangeln (etwa aufgrund der räumlichen Distanz), strikt ab, aber niemals kritisiert er staatliches Handeln als solches.

(25) W 267. An einer Stelle geht Smith sogar so weit, dass er den Wert der Gemeinschaft beinahe absolut über den des einzelnen setzt: Er meint, dass ein Soldat, der auf seinem Wachposten einschläft, zu Recht mit dem Tod bestraft wird, auch wenn kein Schaden entstanden ist: "Wenn die Erhaltung eines Individuums unvereinbar ist mit der Sicherheit einer großen Menge, dann kann nichts gerechter sein, als dass die Vielen dem Einen vorgezogen werden." (T 136)

(26) C. Menger, Die Social-Theorien der classischen National-Oekonornie und die moderne Wirtschaftspolitik [18911. in: F. A. Hayek (Hg.), Carl Menger. Gesammelte Werke. Band 11, S. 219-33 (Zitat: S. 224).

(27) Was bedeutet denn der Wealth of Nations für Smith? Schon der Titel verrät einiges: Es geht nicht primär um Reichtum, sondern um Wohlstand, wiewohl Wohlstand einen gewissen Reichtum voraussetzt (weshalb Smith in den ersten beiden Büchern auch erörtert, wie eine Nation reich werden könne).

(28) Vgl. G. Streminger, >Adam Smiths Gerechtigkeitskonzeption<, in: O. Weinberger u. a. (Hg.), Philosophie des Rechts, der Politik und der Gesellschaft. Akten des 12. Internationalen Wittgenstein Symposiums. Wien 1988, S. 67-76 (wesentlich überarbeitet und neu abgedr. in: www.streminger.com).

(29) In der (neo-)liberalen Interpretation des Wealth of Nations wird betont, dass der gesellschaftliche Zusammenhang nicht durch den Appell an den Altruismus des einzelnen hergestellt wird, sondern dass die soziale Interaktion durch den Appell an das Eigeninteresse entsteht. Als Belegstelle wird immer wieder folgende Passage zitiert: "Nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers und Bäckers erwarten wir das, was wir zum Essen brauchen, sondern davon, dass sie ihre eigenen Interessen wahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen-, sondern an ihre Eigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, sondern sprechen von ihrem Vorteil." (W 17) Aber aus der berühmten Metzger-Brauer-Bäcker-Passage ist nicht abzuleiten, dass Smith ein egoistisches Menschenbild verteidigte, dass also für ihn soziale Interaktion nur durch den Appell an das Eigeninteresse entsteht. Dazu genügt bereits die genaue Lektüre: Einige Sätze zuvor heißt es: "Dagegen ist der Mensch fast immer auf Hilfe angewiesen, wobei er jedoch kaum erwarten kann, dass er sie allein durch das Wohlwollen der Mitmenschen erhalten wird." (W 17, m. H.)

(30) Auch in anderer Hinsicht hängen sie in der Luft: Was im Wealth of Nations nicht nur ohne ethische Begründung, sondern auch ohne besondere Differenzierung behauptet wird, wird in den Lectures on Jurisprudence näher geklärt: Der zweite Teil behandelt die >Polizei<, d. h. die aktive Staatsverwaltung.

(31) Smith spricht also in einem doppelten Sinn von menschlicher Natur. Einmal ist sie Inbegriff aller menschlichen Antriebe außerhalb moralischer Überlegungen; diese >Natur< macht moralische Reflexionen erst notwendig. >Menschliche Natur< ist aber auch die Fähigkeit zur moralischen Reflexion, zum ethischen Urteil und zum sittlichen Handeln. Die menschliche Natur moralisiert in diesem Sinne also die übrigen Antriebe des Menschen. Smith ist mit der Idee der einen Natur Monist, kein Vertreter einer Anthropologie, demzufolge der Mensch Bürger zweier Welten sei.

(32) Der Ausdruck >natürlicher moralischer Antrieb< wird zwar von Smith nicht explizit eingeführt, aber er scheint das, was er sagen will, genau zu umschreiben: Etwas, mit dem wir ebenfalls geboren sind, das aber in Gegensatz zu setzen ist zur natürlichen menschlichen Triebstruktur, wie sie in den Lectures on Jurisprudence analysiert wird.

(33) Smiths präzisestes Beispiel lautet so: "Wenn ich mit dir Beileid empfinde, weil du deinen einzigen Sohn verloren hast, und ich deinen Kummer nachzufühlen trachte, dann überlege ich nicht, was ich, ein Mensch von dieser bestimmten Stellung und diesem bestimmten Beruf, erdulden würde, wenn ich einen Sohn hätte und dieser unglückseligerweise stürbe, sondern ich überlege, was ich erdulden würde, wenn ich wirklich du wäre, und ich tausche nicht nur meine Verhältnisse mit den deinen, sondern ich tausche auch die Person und die Rolle mit dir. Ich empfinde darum meinen Kummer durchaus nur um deinetwillen, nicht im mindesten um meinetwillen. Er ist also nicht im mindesten egoistisch. Wie kann ein Affekt als ein egoistischer betrachtet werden, der nicht einmal aus der Vorstellung von irgend etwas entspringt, das mich betroffen hat, oder das sich auf mich in meiner eigenen Person und meiner eigenen Rolle bezieht, sondern der ganz und gar mit dem beschäftigt ist, was sich auf dich bezieht?" (T 528 f.) Diese Beobachtung beweist nach Smith die Selbständigkeit sympathetischer und moralischer Verhaltensweisen gegenüber egoistischen Antrieben: Man versetzt sich nicht in andere, weil man für sich selbst etwas erwartet. man tut es nicht einmal, weil man in eine ähnliche Situation geraten könnte, sondern man nimmt wirklich den Standpunkt der anderen ein, man betrauert, was sie betrauern. In der Trauer der anderen ist man selbst als Mensch, als Mitglied derselben Gesellschaft verletzt; eine solche Anteilnahme ist nach Smith keine Heuchelei.

(34) Vgl. T 129. Strafe ist also nach Smith eine Form der Vergeltung. Sie kann seiner Ansicht nach weder aus Klugheitsüberlegungen noch aus Nützlichkeitserwägungen verstanden werden.

(35) T 202 f. Anders der parteiische Mensch: "Das Bewusstsein, dass er morgen seinen kleinen Finger verlieren müsste, würde ihn schon heute Nacht nicht schlafen lassen; dagegen wird er bei dem Untergang von hundert Millionen seiner Brüder mit der tiefsten Seelenruhe schnarchen – vorausgesetzt, dass er diese niemals gesehen hätte."

(36) Die vielleicht beeindruckendste Passage lautet so: "Wir stellen uns vor, dass wir unter den Augen eines ganz unparteiischen und gerechten Menschen handeln, der weder zu uns, noch zu denjenigen, deren Interessen durch unser Vorgehen berührt werden, in irgendeiner näheren Beziehung steht, der weder uns noch ihnen Vater, Bruder oder Freund ist, sondern der für uns alle nichts anderes ist, als schlechthin ein Mensch, ein unparteiischer Zuschauer, der unser Verhalten mit derselben Gleichgültigkeit betrachtet, mit welcher wir dasjenige anderer Leute ansehen." (T 297) Erst durch ihre Mitmenschen werden Menschen veranlasst, die Perspektive der Unparteilichkeit einzunehmen: "Der Mensch in unserer Brust, der gedachte und ideale Beobachter unseres Fühlens und Verhaltens, muss oft durch die Gegenwart eines wirklichen Beobachters geweckt und an seine Pflicht erinnert werden; und zwar werden wir wohl immer von demjenigen Beobachter, von dem wir am wenigsten Sympathie und Nachsicht erwarten können, gerade den vollkommensten Unterricht in der Selbstbeherrschung empfangen. Seid ihr im Unglück? Dann trauert nicht in der Finsternis der Einsamkeit, richtet euch in eurem Gram nicht nach der nachsichtigen Sympathie eurer vertrautesten Freunde! Kehret so bald als möglich in das helle Tageslicht der Welt und der Gesellschaft zurück! Suchet den Umgang mit Fremden, mit solchen, die von eurem Unglück nichts wissen, oder sich darum nicht bekümmern! Ja, meidet nicht einmal die Gesellschaft eurer Feinde, sondern machet euch vielmehr das Vergnügen, ihre Schadenfreude dadurch zu ärgern, dass ihr sie fühlen lasset, wie wenig euch euer Elend berührt, und wie hoch ihr über demselben steht!" (T 230)

(37) T 254. Der Mensch wird also von der Natur dazu angeleitet, die >natürliche< Verteilung der Reichtümer zu verbessern. Die innere Natur des Menschen treibt ihn dazu, den Verlauf der Ereignisse zu korrigieren, so dass sie mit den Regeln der Moralität übereinstimmen. Diese Idee einer Verbesserung der Natur mit natürlichen Mitteln erinnert an Vorstellungen, wie sie in der englischen Landschaftsarchitektur verwirklicht wurden. Freilich gibt es auch Unterschiede: In der Landschaftsarchitektur geht es um die Verbesserung der Natur mit Mitteln, die es in einer Welt ohne Menschen gibt, also Bäume, Seen, etc. Aber in der Smithschen Passage geht es natürlich um eine Verbesserung der Natur mit Mitteln, die es nur in einer Welt mit Menschen gibt: Die Kultur verbessert die Natur. Vgl. W. Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist. Darmstadt 1988, S. 201: "Nietzsche dürfte gedacht haben, dass die Ereignisse der Natur auf einen Zweck ausgerichtet sind, zu dessen Verwirklichung es unserer Mithilfe bedarf: [...] Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, in sofern diese jedem Einzelnen von uns nur eine Aufgabe zu stellen weiß: … an der Vollendung der Natur zu arbeiten."

(38) T 317. Macht und Reichtum halten zwar "die Regenschauer des Sommers ab, nicht aber die Winterstürme". Macht und Reichtum setzen ihren Besitzer "mitunter noch mehr als zuvor der Angst, der Furcht und der Sorge aus …" (T 314)

(39) Smith meint, dass "Privateigentum unausweichlich viele Auseinandersetzungen verursacht" und "Eigentum die große Quelle allen Streits" sei. (J 208)

(40) "Glücklicherweise ist in den mittleren und unteren Gesellschaftsklassen die Straße zur Tugend und diejenige zum Glück [...] in den meisten Fällen fast durchaus die gleiche. In all den mittleren und niedrigeren Berufen können wirkliche und echte berufliche Fähigkeiten, verbunden mit kluger, rechtschaffener, standhafter und mäßiger Lebensführung nur sehr selten eines guten Erfolges ermangeln [...] Auch hängt der Erfolg solcher Leute beinahe immer von der Gunst und der guten Meinung ihrer Nachbarn und Standesgenossen ab und dieser können sie selten teilhaftig werden, sofern sie sich nicht einer wenigstens halbwegs geordneten Lebensführung befleißigen." (T 89)



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