Helmut Walther (Nürnberg)

Hubertus Mynarek, Mystik und Vernunft, 2. überarb. und erw. Aufl., LIT Verlag 2001, Münster, 264 S., DM 39,80, ISBN 3-8258-5312-8

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/2001, S. 142-146

Der Autor, Mitherausgeber von A&K, hat sein 1991 erstmals erschienenes Buch nunmehr in überarbeiteter und erweiterter Fassung neu vorgelegt; seine Stellung zum Verhältnis von Mystik und Vernunft spricht sich bereits in seiner Widmung an "alle Suchenden und nicht Saturierten in einer technokratisierten und medial banalisierten Welt ..." aus. Ist das Anliegen des Buches doch weniger eine rein wissenschaftliche Klärung dieses Verhältnisses, als vielmehr der Versuch, das Zusammenwirken beider Sphären für die Zukunft des Menschen wieder fruchtbar zu machen.

In einer Einleitung und 13 Kapiteln werden einerseits die verschiedenen Formen von Mystik, deren Herkunft und anthropologischer Hintergrund geschildert, andererseits die in geistloser Technokratie endende Instrumentalisierung der Vernunft, die in ihrer kritischen Selbstreflexion sich meint völlig von Mystik bzw. Metaphysik lösen zu können. Konsequent wird daher im resümierenden Schlußkapitel die "Verschmelzung der Pole" in der Erkenntnis der "mystischen Tiefe der Vernunft" eingefordert.

Bereits in der Einleitung wird deutlich, daß die Begriffe Mystik, Religion, Glaube, Spiritualität weniger voneinander unterschieden als gleichgesetzt werden – bei der überwiegenden Mehrzahl der großen Geister der Aufklärung von Voltaire, Lessing, Hume wie der einsetzenden Naturerforschung – etwa Galilei, Bruno, Newton – bis hinein in die modernen Naturwissenschaften sei vielmehr ein religiöser Grundzug der Vernunft selbst, eine "kosmische Religiosität" anzutreffen; jede Offenbarungsreligion werde zwar durch die selbstverständlich notwendige Vernunftkritik abgelehnt, jedoch bedürfe es einer neuen Synthese von "ratio und religio", um mittels eines "Überbewußtseins und Kreativität des neuen Vernunftbegriffs" – vom Autor auch als "ökologische Spiritualität" bezeichnet – den sichtbar werdenden negativen Folgen einer rein instrumentellen Vernunft zu begegnen. Dazu werden ausführlich Albert Einstein und Julian Huxley und dessen "evolutionärer Humanismus" zitiert: "’Was die Welt heute braucht, ist nicht nur eine rationalistische Verneinung des Alten, sondern eine religiöse Bejahung von etwas Neuem’" ... "in einer neuen Schau des Universums und der Rolle des Menschen in ihm, die "’das Gefühl für ein heiliges Mysterium’" einschließt.

Hintergrund dieser Forderung ist die bekannte Tatsache, daß bloßes Wissen über Fehlhaltungen und -handlungen noch lange keine Veränderung herbeiführt, solange dieses nicht von einem entsprechenden und existentiellen "Geist" angeleitet wird. Dieser liege – sei dies bewußt oder unbewußt – bereits allen menschlichen Handlungen als Glaube bzw. Sinnbezogenheit zugrunde (was natürlich auch noch für eine rein utilitaristische Technokratie zutrifft); heute vorherrschenden unbewußten bzw. irrationalen Glaubenshaltungen gegenüber sei mit E. Fromm ein "rationaler Glaube" notwendig, der "in produktivem, intellektuellem und emotionalem Tätigsein" wurzelt. Hingegen scheitere ein reiner Rationalismus an der Unabschließbarkeit des menschlichen Denkens ebenso wie an der Unmöglichkeit von Letztbegründungen (Münchhausen-Trilemma). Gerade das moderne rationale Denken in den Naturwissenschaften, vor allem in Physik und Quantentheorie, verweise einerseits auf die Offenheit und Unvorhersagbarkeit, führe andererseits in der gleichzeitigen Erkenntnis der durchgehenden Ordnung des Kosmos "häufig zu Ehrfurcht und Staunen angesichts der vollendeten Schönheit und Eleganz der Natur".

Im dritten Kapitel schließt sich ein Überblick über den Weg der Entmystifizierung der Vernunft an; anders als etwa Kant unterscheidet der Autor nicht zwischen Verstand und Vernunft, sondern verwendet in seiner hier gegebenen Entwicklungsgeschichte des menschlichen Geistes bis hin zur Selbstreflexion der Vernunft beide Begriffe ohne Unterschied. Richtig betont er, daß sich in den verschiedenen Blickwinkeln auf die Welt, der magischen, der sakralen und der ontologisch-metaphyischen Sicht, die Entwicklung des menschlichen Geistes selbst ausspreche, die jenen Phänomenen vorausliegt. Diese Entmythifizierung der Welt führe zu einer Profanierung und Säkularisation – es sei "der geschichtliche Vorgang, in dem die Welt entgöttlicht wird". Äußere und innere Natur werden dabei zuletzt mechanistisch quantifiziert, die Transzendenz wird zu einer "Dimension der psychischen Immanenz", alle kulturellen Hervorbringungen des Menschen werden so zu "Derivaten[n] der Psychologie und Soziologie" reduziert. Diese (angebliche) Berechenbarkeit alles Seienden, die weder Natur insgesamt noch Individualität von Mensch und Tier respektiert, sondern nur noch berechnend "vernutzt", habe faktisch zu Technokratie und Technozentrik geführt. Auf diesem Wege der Säkularisation der Welt dienen "die Werke der Wissenschaft, Kultur und Technik ... nicht mehr dem eigentlichen Fortschritt des Menschen, seiner Selbstfindung und Selbstverwirklichung", sondern "unter der teuflischen Sonne des Profitstrebens" holen sie "zur letztendlichen Vernichtung allen Lebens auf Erden aus" und enden "für den Konsumsklaven von heute ... in der – Banalität".

Zwar spricht sich auch noch in dieser zunehmenden Technokratie der Wesenszug des Lebendigen, die Selbstübersteig(er)ung (Transzendenz) aus, jedoch in einer völlig falschen und destruktiven Richtung der rein materiellen Bedürfnisbefriedigung und -steigerung ohne Rücksicht auf die Natur selbst wie die menschliche Natur als Teil derselben. Dieser Fehlform einer steten Steigerung des Haben-Wollens wird die Auffassung Albert Schweitzers gegenübergestellt, "in der das Individuum zur Totalität des Seins ... in ein Verhältnis tritt" in der "Hingabe meines Seins an alle Erscheinungen des Seins". "Die ethische Mystik läßt also ‚das Einswerden mit dem Unendlichen durch die ethische Tat verwirklicht werden.’"

Die Menschheit kann und muß hier also wählen zwischen einer ("guten") Option für das Leben, oder der ("bösen") für den Tod, zu dem eine nur "technisch-utilitaristisch-instrumentelle Vernunft" zwangsläufig führen muß. An der Bevorzugung der zweiten (Nicht-)Alternative in der Moderne ist nicht die Technik "schuld", sondern die Schlußfolgerungen des Menschen selbst aus dieser "Technisierbarkeit" der Welt (und seiner selbst) einschließlich der auch hier beobachtbaren Übersteigerungsformen der Großtechnik, denn deren Abläufe werden in der "Globalisierung" und in der Anhäufung von Datenmengen aller Forschungszweige für das Individuum unüberschaubar. Das stets geforderte Wirtschaftswachstum ist dabei einerseits ein Fetisch, andererseits ein "zwangsläufige[r] Trend der technischen Megamaschine", der in seiner Konsequenz der "universellen Ausbeutung" "letal" sein wird.

Dieser Entwicklung will der Autor mit einer "ökologischen Religion" entgegenwirken, die sich wiederum auf A. Schweitzer zurückbezieht, für den es bedeutungsvoll ist, "daß in dem ethisch gewordenen Menschen ein von Ehrfurcht vor dem Leben und Hingebung an Leben erfüllter Wille zum Leben in der Welt auftritt." "Der Weg zur wahren Mystik führt durch das rationale Denken hindurch zum tiefen Erleben der Welt und unseres Willens zum Leben hinauf." Klar ersichtlich gibt hier Schweitzer dem Transzendenzstreben des Menschen eine ganz andere Richtung, als er in der Megalomanie der Technokratie zum Ausdruck kommt.

Ganz im Sinne Schweitzers erstreckt der Autor das ethische Prinzip der Gleichheit, hierin weitergehend als etwa Peter Singer, nicht nur auf die Tiere, sondern auch auf das Lebensrecht der Pflanzen, denn eine "ökologische Mystik" als "Wurzel aller sittlichen Bejahung, Hinwendung und Hingebung an die Natur in allen ihren Manifestationen" ziele darauf, "eine befriedete Natur zu schaffen".

Ob letzteres wirklich in der Teleologie der Natur selbst wie in der Natur bzw. im kulturellen Auftrag des Menschen liegt, kann mit Denkern von Heraklit bis Nietzsche auch anders gesehen werden. Jedenfalls hat die abendländische Religion des Christentums, in ihrer Hauptströmung, anders als etwa Taoismus und Buddhismus, ebenso in jene destruktive Richtung des sichernden Machtstrebens und der Objektivierung des Lebendigen gewirkt, wie in der Befragung der Bibel selbst, an der Naturfeindlichkeit des Christentums und an der Machtverflechtung der christlichen Kirchen gezeigt wird.

Wie oben schon angedeutet, bleibt das Verhältnis von Mythos und Metaphysik, von Verstand und Vernunft sowie der entsprechenden Mystik recht ungeschieden – und so meint der Autor, insbesondere auch in Anbetracht der Aussagekraft von Symbolen, die den Begriff bekanntlich weit übersteigen können, daß auch heute noch der Mythos wie ebenso der Kultus einer "ökologischen Religion" nutzbar gemacht werden könne, was er zunächst an einer neuen Interpretation des christlichen Weihnachtsfestes und sodann unter Bejahung kultischer Verehrung von "Höchstwerten" zu zeigen sucht. Damit soll der ver-rückte Mensch wieder auf die Welt als lebendigen Organismus hingewiesen werden, aus dem er sich "demiurgisch, faustisch herauskatapultiert" habe. Hier muß allerdings gefragt werden, ob und wie es angehen kann, daß sich das Naturwesen Mensch aus der Natur "katapultieren" könne, oder ob nicht vielmehr gerade auch diese Entwicklung in und zur Auswicklung der Natur selbst gehöre? Woran wollen wir messen, welcher Teil unserer kulturellen Entwicklung "naturgerecht" ist und welcher nicht? Es sei denn, wir unterstellen der Natur, wie bereits Rousseau ("Zurück zur Natur") und wohl auch der Autor, einen "Willen zur Befriedung"? Haben nicht bedeutsame Geister, wobei vor allem Nietzsche zu nennen wäre, in einer solchen "Heerdenmoral" das Banale erblickt?

Ein größerer Exkurs widmet sich sodann der eigentlichen Wurzel dieses Abdriftens vom rechten Pfad der ökologischen Religion, als dessen Grundphänomen die "Angst" ausgemacht wird; und zwar, wie die Begrifflichkeit zeigt, wohl von Heidegger herkommend – ohne allerdings dessen Warnung berücksichtigend, daß die Griechen die Anfangsfrage nach dem Sein verfehlt haben –, wird die "metaphysische Angst" als Folge eines "Schwebezustandes ... zwischen Sein und Seiendem" bezeichnet. Das ist platonisch wie auch buddhistisch gedacht, insofern das Seiende als eine eingeschränkte Erscheinung des Seins dargestellt wird: "Die Seinswertigkeit und Seinsmächtigkeit jedes einzelnen Seienden ist ein Teil der unendlichen Macht und Wertigkeit des Seinsgrundes als des hervorbringenden Prinzips." Platon sagt im Symposion und im Höhlengleichnis nichts anderes. Mit Heidegger, der in längeren Ausschnitten aus "Sein und Zeit" zu Wort kommt, wird konstatiert, "daß das Sein wesensnotwendig im Seienden west" – was angesichts der Erkenntnis der eigenen Eingeschränktheit des Seienden gegenüber dem Sein durch Seiendes (den Menschen) zur "Kontingenzangst" "am Abgrund des Nichts" führen könne. Weitergeführt wird diese Diskussion über den "Begriff Angst" bei Kierkegaard hin zu Jaspers und dessen "philosophischen Glauben" in der selbsterhellenden Erfahrung des Scheiterns an der Transzendenz. Die Ausbeutung und Konkretisierung dieser Ängste durch die Kirchen werden näher beschrieben, um sodann auf die Kritik dieser religiös-kirchlichen Praktiken näher einzugehen, wobei erfreulicherweise der bedeutsamen Rolle des heute oft noch zu Unrecht vergessenen Ludwig Feuerbach ausführlich gedacht wird, dessen Gedanken dann in der "sozioökonomischen Kritik" von Marx aufgenommen und schließlich von der Psychoanalyse Freuds und seiner Mitarbeiter Adler und Jung in der Erschließung von Psyche und Unbewußtem fortgeführt wurden. Der Autor trägt in diesen Kapiteln viel lesenswertes Material zur Entwicklung von Religion und Mystik zusammen und läßt sowohl den tragenden Erkenntnissen insbesondere von Marx und Freud ebenso wie ihren Fehlern in seiner Darstellung Gerechtigkeit widerfahren.

Im Schlußkapitel verschmelzen beide Pole Mystik und Vernunft: "Vernunft braucht und hat ganz wesensmäßig eine Mitte, und diese Mitte ist die Mystik." Sie sei das "Herz der Vernunft", ihre "Innenseite", wobei ausdrücklich auf den "Eros" des Plato Bezug genommen wird. Von beiden Seiten, der Wissenschaft wie auch der Philosophie und Mystik her, sei eine Aufeinanderzu-Bewegung zu beobachten, was einerseits mit Zitaten etwa von Einstein, Dürr und Capra, andererseits mit Teilhard de Chardin, Bergson u.a. belegt wird. Zuletzt wird dieses im mystischen Erleben erfahrbare "kosmische Bewußtsein" als die höchste Bewußtseinsform des Menschen gedeutet, als "zu allem hin geöffnete Seinssympathie und -liebe" hin zu einer "alles übergreifenden Super-Einheit".

Da sich der Autor bewußt ist, daß eine solche "unio mystica" aus Eigenem nur wenigen Individuen zuteil werden wird, für eine breite Wirksamkeit einer solchen Verschmelzung von Mystik und Vernunft zur Rettung der Erde von der Technokratie der Vernunft jedoch möglichst viele Menschen sich auf diesen Weg einlassen müssen, diskutiert er traditionelle (meditative Techniken) und moderne Formen (Transpersonale Psychologie), die es ermöglichen sollen, sich der Durchdringung von Mystik und Vernunft anzunähern.

Die Konstatierung eines dadurch erreichbaren "Überbewußtseins", deren Problematik der Autor angesichts von dessen Reduktion in der Psychoanalyse oder in der Neurobiologie auf Gehirnzustände durchaus sieht, verteidigt er einerseits mit dem holistischen Argument, denn "Überindividuelle Bewußtheit ist universale Erfahrung des Universums durch Universum." Individuell andererseits erstehe im "Gipfelerlebnis" eine reichere, vollere und positivere Wahrnehmung der Dinge nebst höchstem Lustempfinden, in welchen "Meta-Freuden" die Subjekt-Objekt-Spaltung transzendiert werde.

Der Autor schließt sein Buch mit dem "Manifest des ‚Universalen Menschen’" als "Synthese zwischen Rationalität und mystischem Elan", in der das "Universum da draußen mit dem Universum da drinnen zur Harmonie" gebracht werden soll.

So nachvollziehbar und wünschbar die Postulate dieses Buches auch sind, erscheint es dem Rezensenten doch fraglich, ob auf dem vorgeschlagenen (und nicht neuen) "Edlen Pfad" die Probleme des modernen Menschen mit sich und seiner (Um-)Welt gelöst werden können. Die Verstrickung des Menschen in seine Technik, vom individuellen medialen Umfeld bis zur globalen Großtechnologie wird schwerlich durch den Sprung in die "unio mystica" eines kosmischen Bewußtseins überwunden werden, zu dem die meisten Individuen von ihrer Veranlagung bzw. Umwelterfahrung her auch gar nicht in der Lage sein werden. Die dazu angebotenen Mittel wie etwa Neuinterpretation von Symbolen und Kulthandlungen bzw. meditative Techniken erreichen zwar sicherlich spezifische Schichten, stellen aber nur einen Ersatz längst bekannter "Sinnstiftungen" dar, die sich auch bislang als wirkungslos gegenüber der technischen Potenz der Vernunft erwiesen haben. Die Wirkungen und Rückwirkungen dieser Technik auf den Menschen werden, so weit sie der Autor ins Blickfeld nimmt, vor allem negativ gewertet (Technokratie) – bewegt von jener (nicht unbegründeten) Angst des Zauberlehrlings. Andererseits kann sich der Mensch dieser Innovationskraft aus Natur und Kultur, mit der er (derzeit) die phylogenetische Spitze der Evolution innehat, wohl nicht entziehen, weil gerade dies sicherlich sein ureigenster "Auftrag", seine Grundgegebenheit als "nichtfestgestelltes Tier" (Nietzsche) ist. Und so wären neben der "ökologischen Religion" vor allem auch jene Chancen in den Blick zu nehmen, die sich aus der Technik und deren konditionierender Rückwirkung auf den Menschen ergeben könnten – auch so wäre eine Transzendierung des (derzeit sicherlich mißlichen) Status quo der Vernunft denkbar.

Diese Anmerkungen wollen keinesfalls den positiven Gesamteindruck des Buches schmälern, das sich durch einen hohen Informationsgehalt in Bezug auf das Verhältnis von Mystik und Vernunft auszeichnet, vielmehr kann es auf Grund seiner ethischen Zielrichtung und vor allem auch seiner guten Lesbarkeit nur empfohlen werden. Stellt es doch den Leser vor das Fragmal seiner eigenen Innerlichkeit und der für ihn selbst notwendigen Konsequenzen angesichts weitreichender, rasanter und noch unüberschaubarer Folgen aus der Anwendung der instrumentellen Vernunft für die Zukunft von Erde und Mensch.



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